Die
Sache mit der christlichen Religion
Gerd Lüdemann,
Jahrgang 1946, ist Professor für Geschichte und Literatur des
frühen Christentums an der Theologischen Fakultät der
Universität Göttingen. Seit 1999 prozessiert Lüdemann
gegen die Universität, inzwischen liegt der Fall beim
Bundesverfassungsgericht.
Als
theologisches Erstsemester besuchte ich jeden Sonntag den
Universitätsgottesdienst in der Göttinger St.
Nikolaikirche. Dort predigten die Professoren der Theologischen
Fakultät, deren Worte von der Kanzel wir Studenten andachtsvoll
lauschten. Während der Woche trafen wir die Hochschullehrer
wieder; sie machten uns dann im Hörsaal vom Katheder aus mit der
historischen Kritik der Bibel bekannt.
Mit der Zeit nahm die
Zahl meiner Gottesdienstbesuche jedoch ab und neigte sich dann am
Ende des zweiten Semesters sogar gegen Null. Ich hatte
Schwierigkeiten, das auf der Kanzel Gesagte mit dem im Hörsaal
Gelernten zu vereinbaren, und fand es zusehends unbegreiflich, wie
ein und dieselbe Person christlich verkündigen und
wissenschaftlich unterrichten kann. In Predigten über das Alte
Testament wurden uns Abraham und Moses so nahe gebracht, als ob sie
zu uns sprächen, in Vorlesungen über die Geschichte Israels
lernten wir dagegen, dass Abraham historisch garn nicht existiert hat
und über Moses wenig mehr als sein ägyptischer Name bekannt
ist. Ähnlich verhielt es sich mit dem Neuen Testament. Beim
Ostergottesdienst hieß es aus professoralem Mund, Jesus wurde
von den Toten erweckt und zum Herrn über den Kosmos gemacht,
indes lernten wir im Seminar über die Auferstehung Jesu: Jesus
ist, historisch gesehen, gar nicht auferstanden; die Jünger
haben ihn vielmehr in einer Vision gesehen. Das Grab war gar nicht
leer, sondern voll.
Zentrale biblische
Aussagen sind historisch haltlos: Kann man da noch Christ sein?
Mich bedrückte
dieser scharfe Gegensatz zwischen Glauben und Wissenschaft sehr.
Hier, in der einstigen Hochburg der deutschen Aufklärung, war
ich nun und wollte wissen, was in der Bibel Fiktion und was Faktum
ist, und erfuhr es auch. Doch die Sprengkraft ihres Wissens wurde von
den hochgeschätzten Lehrern – so schien es mir –
durch den Inhalt ihrer Predigten sofort wieder
neutralisiert.
Angesichts einer solch ausweglosen Lage rückte
der Abbruch des Theologiestudiums in greifbare Nähe. Ich vollzog
ihn aber nicht, weil das Wissen um den Ursprung des Christentums und
um die Entstehungsgeschichte der biblischen Schriften eine
Bereicherung, einen Wert in sich darstellt. Und wo konnte man all das
besser lernen als an der Theologischen Fakultät? Außerdem
emanzipierte die historische Kritik von den Dogman der Kirche,
besonders auch davon, dass alle Ungläubigen ewig verdammt seien.
„Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden, wer
aber nicht glaubtet, der wird verdammt werden“ sagte uns
„Jesus“ bei der Kindertaufe jeden Sonntag durch den Mund
unseres Pastors; ich habe das hunderte Male gehört und auch
geglaubt und war von diesem Unsinn nun endlich befreit worden. Daher
setzte ich das Theologiestudium bewusst fort, wollte aber nicht mehr
Pastor werden und redete mit niemandem über mein Problem. Keiner
fragte danach; man konnte auch; man konnte auch, ohne dieses Thema
anzusprechen, beruflich als Theologe weiterkommen, damals wie
heute.
Dreißig Jahre danach, inzwischen ordentlicher
Professor für Neues Testament an meiner Heimatuniversität,
wagte ich im März 1998 erstmals, den mich seit dem
Theologiestudium bedrängenden Konflikt in allen Einzelheiten zu
beschreiben, und bekannte öffentlich meinen Unglauben. Unter
Verweis auf die allseits bekannten Ergebnisse historischer Forschung
– die meisten im Neuen Testament enthaltenen Worte Jesu sind
unecht, das Abendmahl ist nicht von ihm eingesetzt worden, die
Auferstehung geht auf eine Vision der Jünger zurück-
schrieb ich: ES gibt zwar viele Gründe, Christ zu sein, aber
keinen stichhaltigen Grund. Niemand könne angesichts der
historischen Haltlosigkeit zentraler biblischer Aussagen noch Christ
sein, und auch ich sei keiner mehr.
Diese Aussage eines
Theologieprofessors – „ich bin kein Christ“ –
rief die evangelischen Kirchen in Niedersachsen auf den Plan. Ihre
juristischen Vertreter intervenierten unverzüglich beim
Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.
Sie verlangten disziplinarische Maßnahmen und, als dies auf
taube Ohren stieß, meine Ausgliederung aus der Theologischen
Fakultät. Zugleich wurde den Angehörigen des habilitierten
Lehrkörpers dringend nahegelegt, sich diesem Begehren
anzuschließen. Das taten sie dann auch prompt. Mehr noch: kein
einziges Mitglied des Kollegiums hat mir öffentlich
beigestanden, obwohl die meisten dieselben historischen Einsichten
teilten. Das Ergebniswar, dass meine Professur – obwohl an der
Theologischen Fakultät verbleibend - ab Ende 1998 aus den
theologischen Studiengängen (einschließlich der
Lehrerausbildung) ausgegliedert wurde und dass ich fortan nicht mehr
das Fach „Neues Testament“ , sondern das Fach „Geschichte
und Literatur des frühen Christentums“ in Forschung, Lehre
und Fortbildung vertreten sollte. Das klang nicht schlecht, denn die
Texte des Neuen Testaments sind ja Literatur des frühen
Christentums. Die üble Konsequenz der Umbenennung des Lehrstuhls
war und ist, dass in dem neuen Fach keine akademischen Abschlüssen
möglich sind und die Professorenstelle nach meinem Ausscheiden
aus dem Staatsdienst im Jahr 2011 nicht wieder besetzt werden sollte.
Das nennt man Kaltstellung.
Da stand ich nun – zum einen
erleichtert, dass der Beamtenstatus einen Rausschmiss verhindert
hatte, zum anderen aber auch betrübt, weil ich akademisch
nunmehr völlig isoliert war und die von mir geförderten
akademischen Talente sehen mussten, wo sie mit ihren Projekten
unterkamen.
Nun sind sich alle in der Geistes- oder
Naturwissenschaft einig, dass Forschung frei sein muss und nicht von
vornherein weiß, zu welchen Ergebnissen sie führt. Diese
Freiheit der Wissenschaft ist erst nach langen Kämpfen gegen
Einsprüche der christlichen Kirchen errungen worden. Da
Theologie bis heute ein Universitätsfach ist, haben die dort
Tätigen – sollte man eigentlich denken – auf volle
Wissenschaftsfreiheit. Es war daher skandalös, dass in meinem
Fall die Niedersächsischen Kirchen den Staat zu einer solch
massiven Beschneidung dieser Freiheit bewegen konnten.
Da es
ums Prinzip und letztlich um die Frage geht, ob und wie Theologie
eine Wissenschaft sein kann, wählte ich den Weg der
gerichtlichen Klage, wobei mir bewusst war, dass die ein langer,
kostspieliger Weg sein würde und dass – wenn überhaupt
– nur in der höchsten Instanz ein Erfolg möglich sein
könnte. Immerhin gibt es in der deutschen Rechtsgeschichte
bisher keinen vergleichbaren Fall, schon gar nicht im evangelischen
Bereich; alle Konflikte zwischen Kirche und Theologieprofessoren sind
bisher durch einen Vergleich beigelegt (zum Beispiel der Konflikt um
Hans Küng) oder direkt zu Ungunsten des jeweiligen
Stelleninhabers entschieden worden.
Von 1999 bis 2005 ging es durch alle drei Instanzen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit: vom Verwaltungsgericht Göttingen zum Oberverwaltungsgericht Lüneburg bis hin zum Bundesverwaltungsgericht Leipzig. Zwar wiesen die ersten beiden Gerichte die Klage zurück; doch war es immerhin ermutigend, dass jeweils der Gang zur nächst höheren Instanz bis hin zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen wurde.
An der Universtät
kaltgestellt: Das Bundesverfassungsgericht prüft jetzt den Fall
Meine
Hoffnung, dass das höchste Verwaltungsgericht die
Zwangsmaßnahmen der Universität Göttingen aufheben
würde, trog allerdings. Selbst die Bundesrichter in Leipzig
blieben hart und bestätigten die Maßnahmen meines
Arbeitsgebers aus dem Jahre 1998, und zwar mit folgender Begründung:
Die Theologische Fakultät der Universität Göttingen
sei eine konfessionsgebundene Einrichtung, sie diene der Ausbildung
des theologischen Nachwuchses der evangelischen Kirche wie auch der
Vertiefung und Übermittlung von Glaubenssätzen. Die an ihr
tätigen Hochschullehrer übten damit ein
konfessionsgebundenes Amt aus. Dafür sei nur geeignet, wer ein
entsprechendes Bekenntnis hat. Die Universität sei verpflichtet,
ihren Lehrbetrieb so zu organisieren, dass dieser den kirchlichen
Eignungsanforderungen genüge.
Mit diesem Urteil haben
die obersten Verwaltungsrichter den kirchlichen Charakter der
Theologie an der Universität festgeschrieben; anders lässt
sich die Aussage nicht verstehen, dass die Hochschullehrer die
kirchlichen Glaubenssätze vertiefen sollen. Das aber heißt
zugleich, dass die Theologie den Richtern zufolge keine Wissenschaft
und demgemäß ein Fremdkörper an der Universität
ist. Sie weisen nämlich der Kirche in Gestalt der Theologischen
Fakultät einen eigenen Raum mit eigenen Gesetzen auch innerhalb
der Universität zu. Dieser Rechtsbefund erlaubt
Theologieprofessoren weiter, zu Lasten der Studierenden in zwei
Sprachen zu reden – auf der Kanzel erbaulich-kirchlich, auf dem
Katheder wissenschaftlich – und, eine alte Tradition
fortsetzend, einer doppelten Wahrheit zu huldigen.
Man darf
gespannt sein, ob der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sich
den Ausführungen zum kirchlichen Charakter der Theologie
anschließen wird.
Gerd Lüdemann