Feind im Visier
Von Richard Rorty
Im Kampf gegen Terror
gefährden westliche Demokratien die Grundlagen ihrer Freiheit
Von Albert Einstein
stammt bekanntlich die Bemerkung, falls ein Dritter Weltkrieg mit
allen verfügbarer Technik geführt werden sollte, dann würde
der Vierte Weltkrieg wieder mit Stöcken und Steinen ausgetragen
werden. Seitdem hat man sich in Abertausenden von Untergangsvisionen
die Anarchie ausgemalt, in die die Zivilisation nach einem
thermonuklearen Schlagabtausch zurückfiele. Bibliotheken und
Museen würden geplündert, um Brennmaterial fürs
Lagerfeuer zu ergattern. Und nach einer Generation wären die
Menschen wieder Jäger und Sammler und die Errungenschaften
unserer Gattung aus den letzten fünftausend Jahren wie
ausgelöscht.
Einstein befürchtete einen
atomaren Schlagabtausch für den Fall, dass sich die Vereinten
Nationen nicht zu einer echten Weltregierung mit einer
durchsetzungsfähigen Polizeitruppe weiterentwickeln würden.
Nichts, was wir seitdem gelernt haben, schwächt dieses Argument.
Aber Einstein konnte sich eines nicht vorstellen: dass in Pakistan
oder Nordkorea fabrizierte, gerademal koffergroße Atomwaffen
irgendwelche Individuen – zum Beispiel solch einen Playboy wie
Osama bin Laden – in die Lage versetzen würden, Dinge zu
tun, die früher nur Staaten möglich waren.
Nun liegt das Tröstliche in
dem Umstand, dass es Terroristen wahrscheinlich nur gelingen wird,
die Weltuhr um zweihundert Jahre zurückzudrehen du nicht um
fünftausend. Denn die größte Wirkung, die sie mit
ihren Höllenmaschinen und grausamen Anschlägen erzielen,
werden nicht Leid oder Tod sein. Die größte Wirkung wird
von Maßnahmen ausgehen, mit denen westliche Regierungen auf den
Terror reagieren. Diese Reaktionen könnten das Ende für
einige Institutionen bedeuten, die in den zwei Jahrhunderten nach den
bürgerlichen Revolutionen in Europa und Nordamerika entstanden
sind.
Der weit verbreitete Verdacht,
der Krieg gegen den Terror sei potenziell gefährlicher als der
Terrorismus selbst, scheint mir vollkommen gerechtfertigt. Denn wenn
die direkten Folgen des Terrorismus alles wären, was wir zu
befürchten hätten, gäbe es keinen Grund für die
Annahme, westliche Demokratien würden die Explosion von
Atombomben in ihren Metropolen nicht überleben.
Naturkatastrophen, die ein vergleichbares Ausmaß an Tod und
Zerstörung über die Menschen brächten, wären
schließlich auch nicht imstande, demokratische Institutionen zu
gefährden. Würden sich zum Beispiel die tektonischen
Platten an der Pazifikküste verschieben und Hochhäuser zum
Einsturz bringen, bedeutet dies für Hunderttausende den sicheren
Tod. Doch kaum wären die Opfer beerdigt, würde man mit dem
Wiederaufbau beginnen. Und auch die Notstandsbefugnisse wären
zeitlich beschränkt.
Politik der Härte
Ganz anders verhielte es sich im Fall eines Terrorangriffs. Politiker, die alles daransetzen, weitere Anschläge zu verhindern, wären versucht, sich an Härte zu überbieten und weitergehende Maßnahmen zu ergreifen – Maßnahmen, die sogar der Rechtsstaatlichkeit ein Ende setzen könnten. Und die Wut, die man verspürt, wenn namenloses Leid durch menschliches Tun verursacht wird und nicht durch Naturgewalten, wird die Öffentlichkeit dazu bringen, diese Maßnahmen zu akzeptieren.
Gewiss, das Ergebnis wäre kein faschistischer Putsch. Das Ergebnis wäre eine Kaskade von Maßnahmen, die einen Wandel in den sozialen und politischen Bedingungen des westlichen Lebens einleiten würden. Richter und Gerichte verlören ihre Unabhängigkeit, und regionale Militärbefehlshaber erhielten über Nacht ihre Autorität, wie sie früher nur gewählte Beamte innhatten. Und die Medien wiederum sähen sich gezwungen, Proteste gegen Regierungsbeschlüsse zu unterdrücken.
Die Angst vor solchen Entwicklungen ist unter Amerikanern wie mir allerdings weit mehr verbreitet als unter Europäern., denn nur in den Vereinigten Staaten hat die Regierung behauptet, wir befänden uns in einem anhaltenden Kriegszustand. Der Essayist Christopher Hitchens hat bereits darüber gespottet, amerikanische Linke hätten mehr Angst vor dem Justizminister John Ashcroft als vor Osama bin Laden selbst.
In der Tat, ich gehöre genau zu der Sorte Mensch, an sie Hitchens dachte. Mein erster Gedanke am 11. September 2001 war, dass „die Bush-Regierung dies in der gleichen Weise ausnutzen wird wie die Nazis den Reichstagsbrand“. Diese Befürchtung hat sich zwar nicht ganz, aber doch teilweise bewahrheitet. Das Weiße Haus verlangte sofort nach Sondervollmachten, und viele davon wurden ihm auch vom Kongress gewährt.
Ob die Sondervollmachten im Patriot Act mit der amerikanischen Verfassung zu vereinbaren sind, darüber ist an juristischen Fakultäten viel gestritten worden. Im April wird dieses Thema sogar das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten beschäftigen. 250 Gemeinden und Städte in den USA haben Resolutionen gegen den Patriot Act verabschiedet, und einige Verfasser weisen die lokalen Polizeikräfte sogar an, mit seiner Durchsetzung nicht mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten. Ohnehin sehen die Kritiker des Patriot Act darin nur den Vorgeschmack auf noch weitergehende Notstandsbefugnisse, die in dem Augenblick verlangt würden, sobald Terroristen weitere Anschläge von der Größenordnung des 11. September verüben sollten.
Der Patriot Act ist ein sehr kompliziertes, 342 Seiten langes Sammelwerk. Wie sein britisches Gegenstück, der Anti-Terrorism, Crime and Security Act, wurde er nach dem 11. September buchstäblich durch die Institutionen „gepaukt“. Es ist unwahrscheinlich, dass alle Kongress- oder Parlamentsmitglieder, die für ihn gestimmt haben, eine klare Vorstellung von seinem Inhalt hatten. Jedes Parlament eines westlichen Landes, in dem Al-Quaida einen massiven Anschlag verübt, wird vermutlich rasch ähnliche Gesetze verabschieden.
Obwohl ich John Ashcroft tatsächlich als eine finstere Gestalt betrachte, glaube ich nicht, dass die Bush-Regierung aus lauter machthungrigen Kryptofaschisten besteht. Auch die britische Regierung sehe ich nicht so. Ich denke aber, dass das Ende der Rechtsstaatlichkeit sowohl in den USA als auch in Europa fast unbeabsichtigt eintreten kann, allein durch die institutionellen Veränderungen, die im Namen des „Kampfes gegen den Terrorismus“ angestrengt werden.
Sollte es weitere Terroranschläge auf europäische Hauptstädte geben, werden Militär und die für die nationale Sicherheit zuständigen Bürokratien in allen EU-Staaten plötzlich über nie gekannte Vollmachten verfügen. Die Öffentlichkeit wird dies im Großen und Ganzen angemessen finden. Die Regierung wird ihre patriotische Entschlossenheit unter Beweis stellen und Gesetze beschließen, die an das alte deutsche Berufsverbot erinnern. Sie wird dazu übergehen, jede öffentliche Kritik als Unterstützung und Beschwichtigung des Terrorismus zu brandmarken. Und bald werden die europäischen Justizminister ihren Kritikern dasselbe zurufen wie vor ihnen John Ashcroft. „Für diejenigen, die friedliebenden Menschen mit dem Phantom verlorener Freiheit Angst einjagen, habe ich folgende Botschaft: Eure Taktik hilft nur den Terroristen, denn sie schadet der nationalen Einheit und vermindert unsere Entschlossenheit“.
Nach und nach würden diese Entwicklungen die Kanäle verstopfen, über die öffentliche Meinung die Politik beeinflussen kann. Am Ende dieses Abschleifungsprozesses würden die Demokratie durch etwas ganz anderes ersetzt werden, nicht durch eine Militätdiktatur, auch nicht durch einen Orwellschen Totalitarismus, sondern durch einen aufgeklärten Absolutismus, der von einer Nomenklatura erzwungen würde.
Ende der offenen Gesellschaft
Diese Art von Machtstruktur überlebte ja das Ende der Sowjetunion und wird nun unter Putin und seinen ehemaligen KGB-Genossen erneut verfestigt. Dieselbe Struktur scheint sich in China und Südostasien herauszuschälen. In Ländern, die auf diese Weise regiert werden, - sie mögen noch so aufgeklärt sein - , übt die öffentliche Meinung wenig Einfluss auf Regierungsentscheidungen aus. In dieser Art Feudalismus würden Wahlen zwar nach wie vor abgehalten werden, doch sie wären so bedeutungslos wie die jüngsten Wahlen zur russischen Duma. Da selbst die Gerichte und Untersuchungsausschüsse verhältnismäßig machtlos wären, könnte es Geschäftsleuten geboten erscheinen, Schutzgelder an die Polizei oder an die von ihr geduldeten Banden zu zahlen. Und falls sich ein Bürger über Korruption oder Amtsmissbrauch beschwert, könnte es für ihn gefährlich werden.
Nicht nur das. Die Hochkultur würde politische bedeutungslos, wie es in der Sowjetunion üblich war und in China noch immer ist. Keine unzensierten Medien mehr, auch keine Studentenproteste. Und so gut wie keine Zivilgesellschaft. Das allerdings bedeutet die Rückkehr zum Ancien Regime, wobei das Establishment derer, die für die Nationale Sicherheit zuständig wären, die Rolle des Hofes in Versailles inne hätten.
Würden dieses trostlose Szenario im Westen Wirklichkeit, dann würde sich für weite Teile der Welt das Leben kaum ändern. Denn in den armen Ländern wird die Gesellschaft noch immer nach feudalem Muster organisiert. Im Nordosten Brasiliens oder in den Dörfern Äquatorialafrikas und Zentralasiens würde niemand zur Kenntnis nehmen, dass sich die Welt verändert hat und ein Licht verloschen ist. In den Ländern allerdings, die den größten moralischen Fortschritt erlebt haben, käme alles zum Stillstand. Und eine Generation später würde eine Hand voll verträumter Leser alter Bücher den utopischen Fantasien von der offenen Gesellschaft nachtrauern.
Vielleicht ist diese Prognose viel zu pessimistisch. Möglicherweise bin ich von Ashcroft so eingeschüchtert – und mit mir viele Amerikaner -, dass wir überall Gespenster sehen. Ich hoffe sehr, dass dies der Fall ist. Dennoch stelle ich fest, dass die demokratischen Institutionen, zumindest in meinem Land, recht fragil geworden sind. Zwar bin ich nicht ganz von Chalmer Johnsons These überzeugt, die Vereinigten Staaten seien „wahrscheinlich dem Militarismus preisgegeben“. Aber in seinem Buch Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie (Blessing Verlag) sammelte er eine Menge Beweise dafür, dass das „eiserne Dreieck“ - der Verteidigungssektor, das Pentagon sowie Vertreter der Streitkräfte im Kongress – bereits soviel Macht an sich gezogen hat, dass der Präsident mit dem Pentagon bestenfalls verhandeln kann, statt ihm Befehle zu erteilen. Ich fürchte, all die Präzedenzfälle, die die US-Regierung in Reaktion auf den 11. September geschaffen hat, werden die Regierungen anderer Demokratien beeinflussen. Nach den Anschlägen von Madrid könnte sich das amerikanische Szenario auch in Europa wiederholen. Zwar sind die Geheimdienste und das Militär in den EU-Staaten längst nicht so stark wie in den USA. Dennoch könnten sie plötzlich Befugnisse an sich reißen, nach denen sie vorher nie verlangt hatten. Die Junta in Washington wird es begrüßen.
So viel zu den Ängsten, die mich und viele andere plagen. Wen man sie einleuchtend findet, wird man sich fragen, ob die Bürger in den westlichen Demokratien etwas tun könnten, um zu verhindern, dass ihre Enkel irgendwann in einer Art von Neofeudalismus leben müssen. Sie können. Als Erstes müssten sie die obsessive Geheimhaltungspolitik infrage stellen. Sie müssten fordern, dass ihre Regierungen den Bestand an Massenvernichtungswaffen offen legen und darüber Auskunft geben, was sie zu tun gedenken, wenn Nuklearwaffen durch andere Staaten oder kriminelle Gruppen wie Al-Qaida eingesetzt werden.
Es droht ein Neofeudalismus
Damit nicht genug. Die Bürger könnten auch verlangen, dass ihre Regierungen Anstrengungen unternehmen, um das Völkerrecht und die Gesetze zur internationalen Strafjustiz zu verändern. Zu Recht bemängeln viele Juristen, das Völkerrecht sei allein auf das Handeln von Staaten zugeschnitten. Und das Strafrecht beziehe sich nur auf Taten, die von den eigenen Bürgern innerhalb der Landesgrenzen begangen würden. Die Neufassung böte im Übrigen auch eine gute Gelegenheit, um multilaterale Abkommen zu vereinbaren und über eine Strukturreform der UN nachzudenken.
Kurzum, wenn Regierungen gezwungen wären, ihre Notstandspläne offen zu legen, hätten es autoritäre und demagogische Politiker schwerer, einen möglichen Ausnahmezustand für eigene Zwecke auszunutzen. Je intensiver die Öffentlichkeit über künftige Krisen diskutiert, desto geringer ist der institutionelle Wandel, den diese auslösen. So gibt es keinen Grund, die Wahrheit über die Entwicklung chemischer und biologischer Waffen zu verschweigen und der amerikanischen Öffentlichkeit Informationen darüber vorzuenthalten, warum mit ihren Steuergeldern „waffenfähiges Anthrax“ hergestellt wurde. Und warum werden die Budgets und die Aufgaben der National Security Agency oder ihres britischen Gegenstücks geheim gehalten?
Im Übrigen ist es höchste Zeit, endlich jene Abkommen offen zu legen, die es möglich gemacht haben, die Erde mit über 700 US-Militärstützpunkten zu überziehen. Die Gründe dafür, der Öffentlichkeit diese Informationen vorzuenthalten, waren schon im Kalten Krieg schwach genug.
Der Fortschritt, den die
Menschheit im 19. Und 20. Jahrhundert gemacht hat, verdankt sie vor
allem der Rolle der kritischen Öffentlichkeit und ihrem Einfluss
auf die Politik. Dennoch haben die Geheimhaltungsmaßnahmen der
Regierungen in den vergangenen sechzig Jahren eine neue, fragwürdige
politische Kultur entstehen lassen. Eine Führungsschicht in den
USA und der Europäischen Union hat sich an den Gedanken gewöhnt,
sie könne ihren Auftrag, für die nationale Sicherheit zu
sorgen, nur dann erfüllen, wenn ihr Tun der Öffentlichkeit
vollständig verborgen bliebe. Der 11. September hat ihre
Überzeugung noch verstärkt, und weitere Terroranschläge
werden diese Eliten vermutlich zu der Überzeugung bringen, die
Demokratie müsse erst zerstört werden, um sie zu retten.
Kommt es allerdings zur schlimmstmöglichen Wendung, dann müssten
die Historiker den Menschen eines Tages erklären, warum das
goldene Zeitalter im Westen lediglich zweihundert Jahre währte.
Und die traurigsten Abschnitte ihrer Bücher würden davon
handeln, wie die Bürger der Demokratien durch Feigheit selbst
dazu beitrugen, die Katastrophe herbeizuführen.
Wer das Glück hatte, Rorty
persönlich kennenzulernen, konnte rasch bemerken, dass dieser
unbekümmerte Denker selbst alles andere als unbekümmert
war. Man kann das mit Melanie Klein verstehen: Wer die paranoide
Position der Systeme und Zeifelsfreiheiten verlässt, begibt sich
in die depressive Position. Oder, weniger theoriegebunden: Wer
gelernt hat, unbekümmert zu denken, muss die Welt ziemlich gut
kennen, und wer die Welt ziemlich gut kennt, lebt nicht unbekümmert.
Richard Rorty ist tot; seine Bücher sind da; es gibt sie eben
doch: die Unsterblichkeit.
Jan Philipp Reemtsma