Kinderarmut
II
Interview
mit dem Erfurter Sozialwissenschaftlers Prof. Ronald Lutz
Die
Bundesregierung steht unter Druck: Um Kinderarmut zu begegnen, sollen
die Mittel für den Kindergeldzuschlag an Hartz-IV-Familien
vervierfacht werden. Die Kanzlerin will außerdem das von der
CSU geforderte Betreuungsgeld durchsetzen, das an selbst erziehende
Eltern ausgezahlt werden soll.
Der Erfurter Sozialwissenschaftler uns Armutsforscher Prof. Ronald Lutz hingegen sagt: Mehr finanzielle Mittel lösen das Problem nicht – und nicht für jedes Kind ist die Erziehung zu Hause die beste Lösung. Was fehlt ist eine Vernetzung von Hilfen vor Ort, die gezielt den Bedürfnissen von Kindern gerecht wird.
Sie
sagen, es reicht nicht aus, armen Familien mehr finanzielle Mittel in
die Hand zu geben. Warum?
Die Frage ist doch, ob diese Mittel in allen Fällen wirklich bei den Kindern ankommen. Armut kann zu einer Beeinträchtigung von Elternfunktionen führen: Gerade Eltern, die schon lange von staatlicher Unterstützung leben, haben oft nicht mehr als die notwendigen Kompetenzen, den Haushalt zu managen, ihre Kinder zu fördern, deren Chancen auch in der Bildung zu verbessern. Das ist keine Schuldzuweisung. Aber es gibt immer mehr Eltern, die ohne direkte Hilfe zu einer Haushaltsorganisation kaum in der Lage sind. Denen hilft nicht mehr Geld, sondern sozialpädagogische Unterstützung im Haushalt.
Wie erreicht man denn, dass ein knappes Familienbudget zugunsten und nicht zulasten der Kinder verteilt wird?
Wir müssen die Kinder auch unabhängig von den Eltern in den Blick nehmen und eine Infrastruktur schaffen, wo ihnen Förderung direkt zugute kommt. Vor allem Kindertagesstätten und Grundschulen werden immer wichtiger als Sozialisationshilfen. Darüber hinaus gibt es bereits Modelle einer „aufsuchenden Hilfe“: Sozialarbeiter oder auch Ehrenamtliche besuchen die Familien und unterstützen sie ganz praktisch, zum Beispiel durch Beratung bei wirtschaftlichen Überlegungen.
Was bedeutet es für ein Kind, wenn Armut zu „Vergleichgültigung“ in den Familien führt?
Die Eltern können ihre Verantwortung für das Kind immer weniger wahrnehmen. Sie igeln sich in ihrer Situation ein, werden fatalistisch nach dem Motto „Es ist nun mal so“. Sie fördern sich selbst nicht mehr und auch nicht die Kinder. Das lässt sich nicht mal eben durch ein, zwei Hausbesuche beheben. Es kann durch praktische Hilfe, Betreuung und durch ein begleitendes Elterntraining aufgebrochen werden. Viele Eltern stehen unter einem permanenten Stress durch Geldnot, aber auch durch die Kinder selbst. Eine neue Perspektive beginnt damit, dass sie von diesem Stress entlastet werden. Das Programm „Opstapje“ etwa hilft, ein positives Familienklima zu schaffen: Eltern und Kinder lernen, ihre Bedürfnisse gegenseitig besser zu verstehen, ihre Verhaltensmöglichkeiten zu erweitern. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass Eltern diese Angebote gern annehmen, wenn sie darin für sich einen Vorteil sehen und sich nicht “bestraft“ fühlen.
Ein konkreter Fall: Ein arbeitsloses Elternpaar hat sich für einen neuen Plasma-Bildschirm verschuldet und das Kind von der Kita abgemeldet, um dort das Geld fürs Mittagessen zu sparen. Wie hilft man diesem Kind?
Dieses Beispiel in einer Fernsehsendung war sehr plakativ. Aber solchen Kindern hilft vor allem eine ganztags orientierte Betreuung in Schule oder Kita. Dort sollte verstärkt Frühstück oder kostenloses Mittagessen angeboten werden.
Studien zeigen, dass viele Familien gar nicht alle Hilfen kennen und beantragen. Was stimmt nicht mit der Organisation sozialer Hilfen?
Die Vernetzung fehlt, manchmal arbeiten Institutionen sogar gegeneinander. Wir haben das Sozialamt, das Jugendamt, das Gesundheitsamt, die Familienkasse, die Rentenkasse, alle mit fest definierter Zuständigkeit. Aber oft hängt ein Gesundheitsproblem mit sozialen und erzieherischen Problemen in einer Familie zusammen. Mit einer Vernetzung kommen wir viel näherganzheitlicher an die Lebenslage der Familien heran statt nur an einzelne Symptome.
Wie müsste die Vernetzung aussehen, damit die Notlage eines Kindes frühzeitig erkannt wird – gerade in anonymen Großstädten?
Wir brauchen eine Vernetzung aller lokalen Institutionen, die mit Kindern in Kontakt kommen. Das hat auch die Debatte um Kindervernachlässigung und soziale Frühwarnsystem gezeigt. Das Netz muss Hebammen, Kinderärzte, Kitas, Schulen, Sozial- und Jugendämter umfassen bis hin zu Pfarrern und Kirchengemeinden, die ja auch oft Kontakt in die Familien hinein haben. In diesem Netz kann man Reaktionsketen aufbauen, die über die Notlage einer Familie rechtzeitig informieren und dann auch zu Hilfen führen.
Warum fordern Sie eine „Kinderpolitik“ als eigenständiges Politikfeld?
Einige Parteien gehen auf diese Vorschläge bereits ein. Aber unser traditionelles Kindheits- und Familienbild – gerade der von uns so gepflegte Begriff vom „Schutz- und Vorbereitungsraum Familie“ – stand dem bisher entgegen. Eine Fokussierung auf das Kind heißt nicht, dass die Familie ausgeblendet wird. Aber wir müssen einfach akzeptieren, dass kindliche Lebenslagen anders sind als erwachsene oder familiäre. Hilfe für Kinder ist eben nicht identisch mit Familienhilfe.
Das Interview führte Irene Jung. Erschienen im Hamburger Abendblatt 6./7. Oktober 2007