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Wer waren die Nazis ?

Günther Oettinger und die gefühlte Geschichte Von Harald Welzer


Wenn Politiker sich über Geschichte äußern, betreiben sie unweigerlich Geschichtspolitik. Ob das fahrlässig geschieht, weil das Geschichtsgefühl eines Ministerpräsidenten es nicht zulässt, sich einen seiner Amtsvorgänger als Nazi vorzustellen, oder absichtsvoll, um die Grenzen des wieder Sagbaren abzuklopfen, sei dahingestellt - der Fall Oettinger zeigt jedenfalls einmal mehr, dass erinnerungskulturelle Landschaften nicht durch kognitives Geschichtswissen allein gestaltet sind, sondern ihre Konturen durch Emotionen und Wünsche an die Vergangenheit bekommt. Deshalb artikuliert sich hier immer auch das Bedürfnis nach einer guten Geschichte, und in einer solchen kommen schlechte Menschen natürlich nicht vor, schon gar nicht, wenn man zu ihnen in einem Verhältnis der Loyalität steht.

Das klassische Vergangenheitsmodell, wie es am Beispiel Filbingers wieder gezeichnet wurde und das durch noch so intensive historische Forschung nicht aus der Welt zu bringen zu sein scheint, entspricht der Raumschifftheorie des Nationalsozialismus, die in etwa besagt, dass 1933 ein UFO gelandet ist, aus dem „die Nazis" ausgestiegen sind, das deutsche Volk und besonders seine Eliten verführt und zu beispiellosen Verbrechen verleitet haben, um dann, nach dem Holocaust und dem verlorenen Krieg, einfach wieder abzufliegen und ein diffus schuldbewusstes, im Ganzen aber doch unschuldiges und erheblich irritiertes Volk zurückzulassen, das seitdem das beträchtliche Problem hat, einen komfortablen Platz in der Geschichte zu finden.
Der Versuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, seinen Vorgänger, den vormals nicht nur der NSDAP, sondern auch der SA angehörenden und an Todesurteilen mitwirkenden ehemaligen Marinerichter Hans Filbinger kurzerhand zu einem Gegner des NS-Systems umzudefinieren, hat in besonders prägnanter Weise gezeigt, wie auch heute noch der eigentlich erreichte und vermeintlich gesicherte Stand der historischen Forschung zum Nationalsozialismus verlassen werden kann.
Der prinzipiell existierende Widerspruch zwischen historischer Forschung und gefühlter Geschichte wird im deutschen Fall noch dadurch verschärft, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nur in einer sehr gebrochenen Weise geschehen ist. Die deutsche Gesellschaft hat sich erst nach langen Jahren des Schweigens, dann aber über Jahrzehnte immer intensiver damit konfrontiert, was die deutsche Vergangenheit gewesen ist. Dieser Prozess begann langsam in den 60er Jahren und erreichte überhaupt erst in den 80er Jahren das Niveau einer einigermaßen offenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Es gibt aber bis heute eine eklatante Lücke in dieser Auseinandersetzung, nämlich ein Ausklammern des psychosozialen Prozesses, in dem das Grauen der radikalen Ausgrenzung, der Beraubung, der Deportation und schließlich der Vernichtung hergestellt wird.
Der Nationalsozialismus erscheint bis heute eigentümlich unbevölkert und unalltäglich, ohne Alltagskonturen, und deshalb ist der Fall des merkwürdig geschichtsvergessenen Ministerpräsidenten keineswegs isoliert zu betrachten. Er stellt nur ein weiteres Beispiel in einer schier endlosen Kette erinnerungspolitischer Verspannungen dar, die die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik geprägt haben. Ob Martin Waiser oder Filbinger/Oettinger, stets geht es um eine trotzige Weigerung, das einmal erreichte Niveau von Geschichtsbewusstsein zu akzeptieren und verbohrt darauf zu bestehen, dass in Wahrheit alles doch ganz anders gewesen sei.
Auch bei Oettinger haben sich, ganz in Übernahme der persönlichen Perspektive Filbingers, „Millionen andere Deutsche" den Zwängen des nationalsozialistischen Regimes nicht entziehen können. In dieser, seit Ende des Krieges existierenden und immer wieder verteidigten Erzähltradition gab es immer nur äußere Gründe dafür, ein Nazi gewesen zu sein. Und wenn man doch einer war (und sich dies auch nicht länger leugnen ließ), dann stets nur rein „formell" (Filbinger) und hauptsächlich, um die eigene Position dafür zu nutzen, das Schlimmste doch noch zu verhindern. Der Fall Oettinger zeigt somit nur einmal mehr, wie sehr sich diese Erzählfigur bis heute in den Alltags-, Familien-, aber auch politischen Diskursen gehalten hat. Wenn Menschen anfangen, deutsche Geschichte individuell zu betrachten, endet das noch immer oft so, dass es außer Hitler, Himmler, Goebbels und Göring keine Nazis gegeben hat. Dabei existiert heute jede Menge belastbares Material, wie die Verstrickung in das System tatsächlich ausgesehen hat, etwa die Untersuchungen über die Rolle der ganz normalen Deutschen wie Götz Alys „Hitlers Volksstaat" oder Peter Longerichs „Davon haben wir nichts gewusst".
Und damit beginnt das eigentliche Problem, an dem sich auch 60 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus nichts grundlegend geändert hat - die Schwierigkeit zu akzeptieren, dass sich Menschen, die sich selbst für moralisch, rechtschaffen und gut halten, in erschreckend kurzer Zeit für ausgrenzendes, diskriminierendes und in letzter Konsequenz sogar für mörderisches Verhalten anderen gegenüber entscheiden konnten. Immer wieder kommt es deshalb nicht nur in der Politik oder in den Alltagserinnerungen, sondern auch in der Wissenschaft zu Versuchen, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu exterritorialisieren, so, als hätten nicht die nichtjüdischen Deutschen sie begangen, sondern irgendjemand anderes.
Der jüngste größere Versuch dieser Art stammt von Konrad Löw, Emeritus für Politische Wissenschaft der Universität Bayreuth, und war zu lesen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 1. März diesen Jahres. Auf einer ganzen Seite unternimmt Löw hier den Versuch, den Stand der gegenwärtigen historischen Forschung, demzufolge „die Deutschen nicht nur von den Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber wussten, sondern darüber offen informiert wurden und weit aktiver, als bisher bekannt war, mithalfen - durch Zustimmung, Denunziation oder Mitarbeit" (Bundeszentrale für politische Büdung), dadurch zu konterkarieren, dass er seinen Kollegen selektive Verwendung der benutzten Quellen vorwirft.
Er selbst zitiert als Beleg dafür unter anderem Victor Klemperer, der am 25. April 1933 in sein Tagebuch eingetragen habe, „dass er die Deutschen insgesamt nicht für besonders antisemitisch halte". Bei Klemperer steht unter diesem Datum aber etwas ganz anderes, nämlich eine bedrückende Auflistung antisemitischer Maßnahmen und freiwilliger Aktionen, unter anderem von Studenten. „Ich notiere nur das Grässlichste", betont Klemperer, „nur Bruchstücke des Wahnsinns, in den wir immerfort eingetaucht sind." Und er resümiert: „Das Schicksal der Hitlerbewegung liegt fraglos in der Judensache. Ich begreife nicht, warum sie diesen Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm gehen sie zugrunde. Wir aber wahrscheinlich mit ihnen." Und selbst wenn man diese Passage so freihändig interpretieren mag, wie Konrad Löw es sich traut, bleibt ja immer noch unbeantwortet, wie es eigentlich geschieht, dass sich innerhalb nur weniger Jahre eine ganze Gesellschaft normativ umzuformatieren vermag und gegenmenschliche Verhaltensweisen nicht nur für normal zu halten beginnt, sondern auch - in je unterschiedlicher Weise, an je unterschiedlicher Stelle - mehrheitlich praktiziert.
Denn heute wissen wir aus den Arbeiten Karl-Heinz Reubands oder Götz Alys, dass die Zustimmung zum Regime bis 1939 kontinuierlich anwuchs und erst ab 1941, mit den ersten Zweifeln an einem schnellen Endsieg, rapide zu sinken begann. Das bedeutet, dass für die meisten nichtjüdischen Deutschen Ereignisse wie die sogenannte Reichskristallnacht oder die fortschreitende Arisierung oder auch die alltägliche Niedertracht im Umgang mit den Juden ihre Loyalität zum System überhaupt nicht einschränkten, ja sie vielleicht sogar beförderten.
Das nationalsozialistische Deutschland ist damit ein Modellfall für eine Gesellschaft, in der innerhalb weniger Jahre zur allseits akzeptierten Norm wurde, was zuvor als völlig undenkbar gegolten hatte: die Ausgrenzung, Entrechtung, Beraubung, Deportation und schließlich Vernichtung eines Teils der eigenen Bevölkerung. Was in dieser Gesellschaft innerhalb weniger Jahre geschah, lässt sich als ein fundamentaler Wertewandel beschreiben, in dem die substanziellsten Normen der Solidarität, der Hilfeleistung, des Beistands und auch nur des Mitleids abhanden kamen, oder genauer gesagt: durch andere Normen ersetzt wurden.
Wie aber waren die nichtjüdischen Deutschen in der Lage, ihre neuen gegenmenschlichen Verhaltensweisen mit der Vorstellung in Einklang zu bringen, dass sie selbst nach wie vor moralisch handelnde, also „gute" Menschen waren? Und wie ist es möglich, dass diese Sicht der Dinge bis heute immer noch fortwirkt und weiter tradiert wird? Um dies tatsächlich zu begreifen, ist es erforderlich, immer wieder nachzuzeichnen, wie und warum die Menschen in Deutschland sich zwischen 1933 und 1945 in millionenfacher Zahl und zumeist Schritt für Schritt für die Unmenschlichkeit entschieden haben.

Die Struktur des Nichtwissens

Zuvor gilt es jedoch ein methodologisches Problem zu thematisieren: Wie für jede andere geschichtliche Epoche gilt auch für den Nationalsozialismus, dass Ereignisse, die die Nachwelt als historische zu bewerten gelernt hat, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur selten als solche empfunden werden. Wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines Alltags, in dem noch unendlich viel mehr wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit beansprucht. In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart.
Historische Ereignisse zeigen ihre Bedeutung also erst im Nachhinein, nämlich dann, wenn sie nachhaltige Folgen gezeitigt haben oder sich, mit einem Begriff von Arnold Gehlen, als „Konsequenzerstmaligkeiten" erwiesen haben, also als präzedenzlose Ereignisse mit Tiefenwirkung für alles, was danach kam. Damit ergibt sich ein methodisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen von solch einem Ereignis wahrgenommen bzw. gewusst haben. Erstmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, nicht mit Erfahrungen abgleichen kann. Aus diesem Grund haben beispielsweise viele jüdische Deutsche die Dimension des Ausgrenzungsprozesses nicht erkannt, dessen Opfer sie wurden.1

Geschichte geschieht somit nicht punktuell, sondern sie ist ein für die begleitende Wahrnehmung langsamer Prozess, der erst durch Begriffe wie „Zivilisationsbruch" nachträglich auf ein abruptes Ereignis verdichtet wird. Die Interpretation dessen, was Menschen vom Entstehen eines Prozesses wahrgenommen haben, der sich erst sukzessive zur Katastrophe auftürmte, ist ein äußerst vertracktes Unterfangen - auch deswegen, weil wir unsere Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung mit dem Wissen darum stellen, wie die Sache ausgegangen ist. Über dieses Wissen verfügten die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen logischerweise nicht. Norbert Elias hat es nicht zu Unrecht als eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat.2

Schließlich muss der Holocaust als ein genozidaler Prozess betrachtet werden, der Ende Januar 1933 begann und mit der Befreiung der Lager im Frühjahr 1945 zu Ende ging. Dabei ist der sich in unterschiedlichen Intensitätsschüben vollziehende Ausgrenzungs-, Ausschließungs-, Beraubungs- und Deportationsprozess von dem mit Kriegsbeginn 1939 experimentierten, aber mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 in aller Radikalität einsetzenden Vernichtungsprozess zu unterscheiden. Denn während die Vernichtung einer, wie Longerich sie nachgezeichnet hat, flexiblen Geheimhaltungspolitik unterlag, die ab Mitte 1942 auf ein komphzenhaftes, wenn auch ominöses Mitwissen der Deutschen setzte,3 fanden alle Einzelschritte des sozialen Ausgrenzungsprozesses der jüdischen Deutschen in der Öffentlichkeit statt. In Deutschland vollzog sich vom Tag der sogenannten Machtergreifung an ein fundamentaler Wertewandel, in dem es zunehmend als normal empfunden wurde, dass es kategorial unterschiedliche Menschengruppen gab, für die entsprechend unterschiedliche Normen des zwischenmenschlichen Umgangs auf der einen und der Rechtsetzung und -anwendung auf der anderen Seite galten.4 Hier geht es nicht darum, was man „gewusst", sondern woran man teilgehabt hat - im Augenblick des Ereignisses, des Geschehens von Geschichte.
Hinzu kommt: Menschen ordnen das, was sie wahrnehmen, in Deutungsrahmen ein, die ihnen helfen, zu interpretieren, was vor sich geht, und diese Interpretationen bilden wiederum die Basis dafür, welche Entscheidung sie dann treffen, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen. Wir alle deuten die Welt nicht in jeder Situation neu, sondern wir nehmen diese Situationen mit Hilfe von sogenannten Referenzrahmen wahr. Solche Rahmen setzen sich aus Wissensbeständen, Erfahrungswerten, selbstverständlich vorausgesetzten Hintergrundannahmen („das ist so", „das macht man so" etc.), sozialisierten Haltungen und Habitusformen, situativ wahrgenommenen Anforderungen, dem Handeln der Anderen, Aufträgen oder Befehlen und anderem mehr zusammen. Sie bilden komplexe Orientierungskarten, soziale Navigationssysteme - Referenzrahmen leiten den Entscheidungsprozess an, der jemanden zu einer Schlussfolgerung und dann zu einer Handlung führt. Um also zu verstehen, warum jemand etwas macht, ist es wichtig, den Referenzrahmen zu kennen, an dem er sein Handeln orientiert - vor allem dann, wenn einem die Handlung vollkommen unverständlich erscheint, sinnlos, irrational, grausam.


1 Vgl. Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt a.M. 1992, S. 138.
2 Vgl. Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 2004.

Das NS-System als Welt der kategorialen Ungleichheit

Die nationalsozialistische Welt war eine Welt der kategorialen Ungleichheit von Menschen - auf der einen Seite die „Arier", auf der anderen Seite die Juden und andere Gruppen, die den Kriterien des Herrenmenschentums nicht entsprachen. Kategorial bedeutet: Kein Mitglied der einen Gruppe konnte aus eigener Initiative, aus eigener Anstrengung in die andere wechseln. Diese kategoriale Ungleichheit von Menschen bestand im Nationalsozialismus nun aber nicht nur in der inhumanen Vorstellungswelt irgendwelcher Phantasten, sondern war fester Bestandteil beispielsweise des wissenschaftlichen Know-hows der Rassekundier und Eugeniker, sie bestimmte das Weltbild von Juristen, Raumplanern und Journalisten und war Teil einer gelebten sozialen Praxis, die aus den dazugehörenden Mitgliedern einer Volksgemeinschaft und jenen bestand, die per definitionem nicht dazugehörten. Diese Gesellschaft war durch eine abgrundtiefe soziale Spaltung gekennzeichnet, und was uns von heute aus so schwer nachvollziehbar erscheint, ist der bedrückende Umstand, dass diese Spaltung eben nicht nur eine Frage der Ideologie oder der Theorie blieb, sondern sich innerhalb erschreckend kurzer Zeit durch alle gesellschaftlichen Vermittlungs- und Handlungsebenen herunterdeklinierte und die soziale Wirklichkeit vollständig durchdrang.
Die Frage ist, wie und warum diese Spaltung von ganz normalen Menschen im Alltag praktiziert wurde, warum eine so radikale Differenzierung der Welt in eine „Wir-Gruppe" von Zugehörigen und eine „Sie-Gruppe" von Ausgeschlossenen als attraktiv und lebbar erschien. Diese Frage harrt bislang noch einer Antwort. Allzu lange nämlich hat sich die Kultur der Vergangenheitsbewältigung mit einem Gesellschaftsmodell begnügt, das aus Tätern, Opfern, Zuschauern und Mitläufern besteht. Ich glaube nicht, dass mit solchen Kategorien der Handlungszusammenhang, der schließlich in den Massenmord und in die Vernichtung führte, angemessen beschrieben werden kann. Es gibt nämlich in einem solchen Zusammenhang keine Zuschauer, es gibt auch keine Mitläufer. Es gibt nur Menschen, die gemeinsam, jeder auf seine Weise, der eine intensiver und engagierter, der andere skeptischer und gleichgültiger, eine gemeinsame soziale Wirklichkeit herstellen. Die Rede von den missbrauchten Wissenschaftlern, von den verführten Massen, von den infizierten Jugendlichen, kurz: von den „in den Zwängen des NS-Systems" (Oettinger) Befindlichen unterstellt immer schon, dass all diese Menschen nicht tätig teilgehabt hätten an einem gegenmenschlichen Projekt, dass ihnen in dem Maße verheißungsvoll erschien, wie es für die anderen, die, die nicht dazugehörten, verhängnisvoll war. Dabei war es genau dieses Projekt, zu dem man beitragen konnte und wollte und das die eigenen Lebensbedingungen auf mindestens tausend Jahre zu verbessern versprach, das die ungeheuren destruktiven Energien freisetzte, die heute noch sprachlos machen. Es war das Versprechen der Zugehörigkeit, das als attraktiv empfunden wurde, und es war die umstandslose Transformation von Ideologie in Wirklichkeit, die den Nationalsozialismus mit jener psychosozialen Durchschlagskraft versehen hat, dass er bis heute Faszination auszustrahlen vermag, etwa wenn der Opa von der tollen Zeit in der Hitlerjugend und die Oma von den Gemeinschaftserlebnissen beim BDM erzählt.
Mir scheint, man kann das alles nur dann verstehen, wenn man sich vorstellt, dass in einem sozialen Gefüge lediglich eine einzige Koordinate verschoben werden muss, um das Ganze zu verändern - um eine Wirklichkeit zu etablieren, die ganz anders ist als die, die bis zum Zeitpunkt dieser Koordinatenverschiebung bestanden hatte. Diese Koordinate heißt soziale Zugehörigkeit. Ihre Verschiebung besteht in der radikalen Neudefinition dessen, wer zum eigenen moralischen Universum zählt und wer nicht - wer also zur Wir-Gruppe gehört und wer als Angehöriger einer Sie-Gruppe ein Anderer, ein Fremder und schließlich ein tödlicher Feind ist.
Freilich gehört zu dieser Aufteilung eine Definition dessen, wer zugehörig sein kann und wer nicht - und wenn eine solche Definition einmal vorgenommen worden ist, ist es nur noch eine graduelle, keine prinzipielle Frage mehr, wie mit den Nicht-Zugehörigen zu verfahren sei. Ganz in diesem Sinn hat Raul Hilberg formuliert, dass das Schicksal der europäischen Juden in dem Augenblick besiegelt war, als ein Beamter Anfang 1933 eine Definition dessen, wer „arisch" war und wer nicht, in einer Verordnung niederlegte. Warum? Weil in einem solchen Augenblick praktisch ausführbar wird, was zuvor in einem durch bürgerliches Recht kontrollier- und korrigierbaren Raum des rassistischen Ressentiments, der Ausgrenzungs- und Vernichtungswünsche zwar schon vorhanden war, aber nicht zur freien Entfaltung kommen konnte. Die Definition schafft also zuallererst ganz neue Möglichkeiten - ein Angebot an eine Mehrheit, sich auf Kosten einer Minderheit sozial, emotional und sehr schnell auch materiell aufzuwerten. Sie hebt Bedürfnisse, die auch in anderen Gesellschaften sehr viele Menschen hegen, aus dem Status des Wünschens in den Status einer realisierbaren und realisierten Wirklichkeit. Mit dem definitorischen Akt des besagten Beamten wird eine prinzipielle und unüberbrückbare Unterschiedlichkeit von Menschen handfeste Realität, wie sie zuvor schon von den Rassebiologen wissenschaftlich konstruiert worden war und wie sie im sozialen Alltag in Vorurteil, Stereotyp und Ressentiment auf der Ebene der Vorstellungen ohnehin bereits existiert hatte.


3 Vgl. Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!" Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945, München 2006, S. 263 ff.
4 Vgl. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005, S. 48 ff.

Die Abkehr vom universalistischen Menschheitskonzept

Die Ungeheuerlichkeit des nationalsozialistischen Projekts liegt in der expliziten Abkehr vom universalistischen Konzept von Menschheit, das sich in den bürgerlichen Gesellschaften seit der Aufklärung durchzusetzen begonnen hatte. Dass das Konzept vom „Herrenmenschen" und „Untermenschentum" für die nichtjüdischen Deutschen so attraktiv war, lag nun aber nicht nur in dem bloßen Versprechen, dass mit diesem Konzept alles besser würde, sondern in der unmittelbaren Umsetzung dieses Versprechens in Praxis. Jeder Schritt im rapide sich vollziehenden Ausgrenzungsprozess der Juden verschlechterte nicht nur deren Lage, sondern verbesserte im selben Zug die Lage der nichtjüdischen Deutschen und schuf eine veränderte Wirklichkeit für sie.
Die eine Seite dieser Wirklichkeit bestand etwa im Ausschluss von Juden aus allen Sorten von Vereinen, Verbänden, Organisationen, Berufen und Aktivitäten, sie bestand in der Passivität der Polizei gegenüber antijüdischen Gewaltaktionen, sie bestand in der alltäglich bestätigten Wahrnehmung, dass all dies möglich war, ohne dass irgendjemand diesen eigentlich ungewöhnlichen Vorgängen Einhalt gebot oder auch nur Einspruch dagegen erhob. Und umgekehrt bestand sie in der kontinuierlichen Anfütterung des materiellen und psychologischen Wohlstandsniveaus der Zugehörigen.
Aus sozialpsychologischer Sicht kann hier nicht deutlich genug betont werden, dass jeder einzelne, oft beiläufige und unscheinbare Schritt in einem Gesellschaftsumbau folgenreich für die Selbstwahrnehmung der Einzelnen im sich verändernden kollektiven Gefüge ist: In dem sozialen Zusammenhang, den Zugehörige und Nicht-Zugehörige gemeinsam bilden, bedeutet jede Positionsveränderung der Anderen zugleich auch eine Veränderung der eigenen Position: „Als sich besagte achtzig Millionen", schreibt Hannah Arendt, „auf die Suche nach dem gefürchteten jüdischen Großvater machten, war eine Art Einweihungsritual erreicht: Jedermann kam aus der Sache mit dem Gefühl heraus, zu einer Gruppe von .Eingeschlossenen 'zu gehören, denen eine imaginäre Masse von .Ausgeschlossenen' gegenüberstand."5 Die Aufwertung zum „Herrenmenschen" oder zum „Arier" ist eine Sache des Gefühls, aber eines Gefühls, das ein immer festeres, unwiderstehlicheres Widerlager in der sich verändernden Wirklichkeit des „Dritten Reiches" fand.
Die Wirklichkeit veränderte sich auf diese Weise tatsächlich von Tag zu Tag, und Interviews mit ehemaligen Volksgenossinnen und -genossen legen bis heute Zeugnis ab von der psychosozialen Attraktivität und emotionalen Bindungskraft dieses Ein- und Ausschließungsprozesses. Nicht umsonst besteht bis heute weitgehende Übereinstimmung unter den Zeitgenossen, dass das „Dritte Reich" mindestens bis zum Russlandfeldzug als „schöne Zeit" zu beschreiben sei; bei vielen geht diese Zuordnung auch noch bis weit in den Krieg hinein. Und die bis heute ungebrochene Darstellung, man habe „die Geschichte mit den Juden" gar nicht mitbekommen, geht nicht auf Verdrängung zurück, sondern auf die gefühlte Selbstverständlichkeit, dass man nunmehr in einer Gesellschaft lebte, die mit vollem Recht ausschließlich aus nichtjüdischen Deutschen bestand und bestehen sollte: Die Ausgrenzung, Verfolgung und Beraubung der Anderen wurde kategorial gar nicht als solche erlebt, weil diese Anderen per definitionem eben schon gar nicht mehr dazugehörten und ihre anti-soziale Behandlung den Binnenbereich der Moralität und Sozialität der Volksgemeinschaft gar nicht mehr berührte.

Die Mikroebene des sozialen Alltags

Wie sieht das alles auf der Mikroebene des sozialen Alltags aus? Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf das Jahr 1933 werfen, wo die so ungeheuer beschleunigte Praxis der Ausgrenzung der Juden ihren Anfang nimmt, und zwar ohne relevanten Widerstand der Mehrheitsbevölkerung - obwohl der eine oder andere nunmehrige Volksgenosse über den „SA- und Nazipöbel" durchaus die Nase rümpfte oder die einsetzende Kaskade der antijüdischen Maßnahmen als unfein, ungehörig, übertrieben oder einfach als inhuman empfand. Was ich mit „ungeheuer beschleunigt" meine, lässt sich mit einer Auflistung von Saul Friedländer illustrieren: „Im März 1933 untersagte die Stadt Köln Juden die Benutzung städtischer Sportanlagen. Vom 3. April an mussten in Preußen Anträge von Juden auf Namensänderung dem Justizministerium vorgelegt werden [...]. Am 4. April schloss der deutsche Boxer-Verband alle jüdischen Boxer aus. Am 8. April sollten alle jüdischen Dozenten und Assistenten an Universitäten des Landes Baden unverzüglich entlassen werden. Am 18. April entschied der Gauleiter von Westfalen, dass einem Juden das Verlassen des Gefängnisses" auf Kaution nur gestattet würde, wenn der Kautionssteller bereit wäre, „an seiner Stelle ins Gefängnis zu gehen. Am 19. April wurde der Gebrauch des Jiddischen auf Viehmärkten in Baden verboten. Am 24. April wurde die Verwendung jüdischer Namen zum Buchstabieren im Telefonverkehr untersagt. Am 8. Mai verbot es der Bürgermeister von Zweibrücken Juden, auf dem nächsten Jahrmarkt Stände zu mieten. Am 13. Mai wurde die Änderung jüdischer Namen in nichtjüdische verboten. Am 24. Mai wurde die restlose Arisierung der deutschen Turnerschaft angeordnet, wobei die vollständige arische Abstammung aller vier Großeltern gefordert wurde."6

Besonders bemerkenswert an dieser äußerst unvollständigen, lediglich beispielhaften Liste ist zum einen die Kreativität im Auffinden der unterschiedlichsten Aspekte des „Jüdischen", wie bei der Buchstabierliste für den Telefonverkehr, zum anderen das freiwillige, oft vorauseilende Praktizieren antijüdischer Ausgrenzungsmaßnahmen durch Privatpersonen in Vereinsfunktionen oder durch Kommunalbeamte, die die entsprechenden Verordnungen durchaus nicht hätten erlassen müssen, sondern aus freien Stücken erlassen haben. Das verweist nicht nur auf anti-soziale Bedürfnisse, die nun unter den neuen Verhältnissen freudig befriedigt werden, sondern auch darauf, dass solche Maßnahmen innerhalb der entsprechenden Vereine, Verbände und Kommunen bei Nicht-Betroffenen auf Zustimmung, jedenfalls nicht auf Protest oder gar auf Widerstand stoßen.
Auf der Mikroebene des sozialen Alltags im Nationalsozialismus sind solche Maßnahmen, die andere treffen, aber von Nicht-Betroffenen natürlich zur Kenntnis genommen werden, allgegenwärtig. Kaum ein Tag verging ohne eine neue Maßnahme. Die normsetzende Spitze der ausgrenzenden Praxis bildete das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933, das unter anderem die Versetzung aller „nichtarischen" Beamten in den Ruhestand vorsah. Noch im selben Jahr wurden 1200 jüdische Professoren und Dozenten entlassen, ohne dass auch nur eine einzige Fakultät dagegen protestiert hätte. Am 22. April werden nichtarische Kassenärzte aus den kassenärztlichen Vereinigungen ausgeschlossen.7 Am 14. Juli 1933 wird das „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" verabschiedet.
Wie immer auch die Gesetze und Maßnahmen bei den einzelnen Volksgenossinnen und Volksgenossen ankamen - festzuhalten ist, dass sich in dieser frühen Phase, die ja zumindest auch für die Nicht-Betroffenen einen erheblichen Wertewandel bedeutete, keinerlei Unmut seitens der Mehrheitsgesellschaft artikulierte.
Aber was heißt eigentlich Nicht-Betroffene? Wenn wir den Vorgang der Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung als einen Handlungszusammenhang betrachten, ist es logisch eigentlich unmöglich, von Nicht-Betroffenen zu sprechen: Wenn eine Personengruppe auf solch schnelle, verdichtete, öffentliche und nicht-öffentliche Weise aus dem Universum der moralischen Verbindlichkeit ausgeschlossen wird, dann bedeutet das umgekehrt, dass sich der wahrgenommene und gefühlte Stellenwert der Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft erhöht - und zwar zum einen auf der Ebene jener kollektiven Nobilitierung, die die praktisch gewordene Theorie von der Herrenmenschenrasse bedeutete. Vor dem Hintergrund dieser in Gesetze und Maßnahmen gegossenen Theorie konnte sich noch jeder sozial deklassierte ungelernte Arbeiter ideell jedem jüdischen Schriftsteller, Schauspieler oder Geschäftsmann überlegen fühlen, zumal dann, wenn der ablaufende gesellschaftliche Prozess dann auch die faktische soziale und materielle Deklassierung der Anderen durchsetzte. Die Aufwertung, die der einzelne Volksgenosse auf diese Weise erfährt, besteht zum anderen auch im Gefühl einer relativ verringerten sozialen Gefährdung - einem ganz neuen Lebensgefühl in einer exklusiven Volksgemeinschaft, zu der man nach den wissenschaftlichen Gesetzen der Rassenauslese so unabänderlich gehört, wie die anderen genauso unabänderlich niemals gehören können.8

Klaus Mann bringt die Funktionsweise dieser gefühlten Vorteile an der Figur von Gustav Gründgens, der in seinem Roman „Mephisto" Hendrik Höfgen heißt, prägnant zum Ausdruck, wenn er Höfgen zu Beginn der NS-Herrschaft reflektieren lässt: „Angenommen aber sogar, die Nazis blieben an der Regierung: was hätte er, Höfgen, schließlich von ihnen zu fürchten? Er gehörte keiner Partei an, er war kein Jude. Vor allem dieser Umstand - dass er kein Jude war - erschien Hendrik mit einem Mal ungeheuer tröstlich und bedeutungsvoll. Was für ein unverhoffter und bedeutender Vorteil, man hatte es früher gar nicht so recht bedacht! Er war kein Jude, also konnte ihm alles verziehen werden! "9

Dieser Gedanke Höfgens markiert eine plötzlich gewonnene Sicherheit vor Deklassierung, wie umgekehrt die definierte Zugehörigkeit zur „jüdischen Rasse" eine absolute, durch nichts zu kompensierende Deklassierung bedeutete, wie hoch oder gefestigt die soziale Position des Betroffenen in der deutschen Gesellschaft zuvor auch immer gewesen sein mochte. So etabliert der Nationalsozialismus in den ersten Monaten seiner Herrschaft ein Kollektiv der Eingeschlossenen und ein Kollektiv der Ausgeschlossenen, eines der Gewinner und eines der Verlierer.


5 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, München 2005, S. 594.
6 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998, S. 49 ff.
7 Alex Bruns-Wüstefeld, Lohnende Geschäfte. Die „Entjudung" am Beispiel Göttingens, Hannover 1997, S. 69.

Gesellschaftsumbau und Wertewandel - der Zeitzeuge Haffner

Die antijüdische Politik war also Herrschaftszweck und Herrschaftsinstrument in einem, und sie vermochte, wie sich so erschreckend gezeigt hat, tatsächlich eine enorme Bindekraft nach innen zu entfalten - eine soziale Komplizenschaft, die in der Bandbreite von einem freudig angenommenen „Du darfst!" über achselzuckendes Geschehenlassen bis zu einer passiven Haltung des schlechten Gewissens reicht.
Sebastian Haffner hat den ungeheuer schnell ablaufenden Prozess des Gesellschaftsumbaus für das ganze Jahr 1933 aus eigener Anschauung beschrieben; seine Darstellung stellt die bis heute einzige systematische Dokumentation des rapiden Strukturwandels der Öffentlichkeit im Jahr der sogenannten Machtergreifung Hitlers dar. Hier findet sich die schonungslose Selbstanalyse eines Zeitgenossen, der die Etablierung der neuen Verhältnisse nach dem Januar 1933 äußerst kritisch und angewidert registriert, gleichwohl aber in den Umbauprozess involviert wird und sich selbst verändert. Was ihn von den meisten seiner Zeitgenossen unterscheidet, ist vor allem, dass ihm der Umbau seiner eigenen psychosozialen Verfassung bewusst ist.
Haffner schildert einen Umbauprozess, der auch die Verhaltensnormen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder umfasst. Im März 1933, zwei Monate nach der „Machtergreifung" Hitlers, sitzt Haffner als junger Gerichtsassessor in der Bibliothek des Kammergerichts, als SA-Leute das Gericht nach jüdischem Personal durchsuchen. Dieser Vorgang läuft, wie Haffner resümiert, erstaunlich unspektakulär ab: „Es war alles überaus glatt gegangen. Die [jüdischen] Richter hatten ihre Togen ausgezogen und waren bescheiden und zivil aus dem Hause gegangen, die Treppe hinunter flankiert von aufgestellten SA-Leuten. Nur im Anwaltszimmer war es etwas wild zugegangen. Ein jüdischer Anwalt hatte .Menkenke gemacht' und war verprügelt worden."10

Haffner selbst nimmt diese Ereignisse in der Bibliothek sitzend nur von ferne wahr und hofft, dass sie bald vorüber sein mögen. Aber schließlich erscheint die SA auch im Leseraum: „Die Tür wurde aufgerissen, braune Uniformen quollen herein, und einer, offenbar der Anführer, rief mit schallender, strammer Ausruferstimme: .Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen!' Es fiel mir auf, dass er den gewählten Ausdruck ,Nichtarier' und den höchst ungewählten .Lokal' verwendete. Wieder antwortete einer [...]: .Sind schon raus!' Unsere Wachtmeister standen in einer Haltung da, als wollten sie die Hand an die Mütze legen. Mir schlug das Herz. Was konnte man tun? Wie wahrte man seine Haltung? Ignorieren, sich gar nicht sehen lassen! Ich senkte mich auf mein Aktenstück. Ich las mechanisch irgendwelche Sätze: .Unrichtig, aber auch unerheblich ist die Behauptung des Beklagten...' Keine Notiz nehmen! In dem Augenblick kam eine Uniform auf mich zu und machte Front vor mir: ,Sind Sie arisch?' Ehe ich mich besinnen konnte, hatte ich geantwortet: ,Ja.' Ein prüfender Blick [...]- und er retirierte. Mir aber schoss das Blut ins Gesicht. Ich empfand, einen Augenblick zu spät, die Blamage, die Niederlage. Ich hatte ,ja' gesagt! Nun ja, ich war ein .Arier', in Gottes Namen. Ich hatte nicht gelogen. Ich hatte nur viel Schlimmeres geschehen lassen."n

Schlimmeres" aus der Sicht Haffners, das war zu ignorieren, wie die jüdischen Kollegen und Vorgesetzten abgeführt wurden, und darüber hinaus eine Entscheidung zu treffen: von den Ereignissen, trotz innerer Widerstände, trotz genauer Beobachtung, keine Notiz zu nehmen. Haffner ist einige Jahre später nach England emigriert, und man wird nicht entfernt sagen können, dass er irgendwelche Sympathien für das System gehegt hätte. Gerade deswegen lässt sich der sensiblen Schilderung der Veränderung seines eigenen und des kollektiven Verhaltens ablesen, wie sich die dynamische Modifikation von Verhaltensnormen vollzieht. Dabei spielen drei psychologische Mechanismen wichtige Rollen. Zunächst ist es die Angst vor Repression, die besonders in einer neuen, präzedenzlosen, nicht recht einschätzbaren Situation wirksam wird. Wenn man nicht weiß, was die Regeln sind, neigt man dazu, nicht zu handeln. Die im Fall Haffners nur indirekte Bedrohung durch die SA-Leute wirkt sich als beträchtliche Verhaltensverunsicherung aus und führt zu der Entscheidung, sich in die Akten zu vertiefen, sich also eine Art virtuellen Schutzraum zu konstruieren, ein „Territorium des Selbst" ,12


8 Götz Aly hat darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus natürlich auch eine Reihe ganz handfester Gratifikationen für die Volksgenossinnen und -genossen bereithielt: „Wer den destruktiven Erfolg des Nationalsozialismus verstehen will, der sollte sich die Schauseite der Vernichtungspolitik ansehen - den modernen, sozialpolitisch warmgehaltenen Gefälligkeitsstaat." (Götz Aly, Ich bin das Volk, in: „Süddeutsche Zeitung", 1.9.2004).
9 Klaus Mann, Mephisto, zit. nach Friedländer, a.a.O., Das Dritte Reich, S. 22.

10 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914-1933, München 2002, S. 148.
11 Ebd., S. 148 ff.
12 Als Territorien des Selbst bezeichnet Goffman symbolische oder soziale Räume, mit deren Hilfe sich Individuen vor Gefährdungen ihrer eigenen körperlichen oder psychologischen Integrität zu schützen versuchen (Mit ihrer Hilfe versucht man zu verhindern, dass man durch andere Körper berührt wird, die Ausdünstungen anderer Menschen einatmet u.a.). Die Möglichkeiten, die Territorien des Selbst zu behaupten, sind vielfältig, aber begrenzt. Man kann sich hinter Büchern oder Zeitungen verschanzen und auf diese Weise einen symbolischen, intimen, blickgeschützten Raum etablieren. Vgl. Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a.M. 1974.

Sukzessives Wegsehen, fortschreitendes Tolerieren

An dieser Stelle wird ein weiterer Mechanismus wirksam, der sich in der Regel verhängnisvoll auswirkt: dass wir nämlich dazu neigen, etwas, was wir mit einem ambivalenten Gefühl getan haben, vor uns selbst zu rechtfertigen, mit unserem Selbstbild in Einklang zu bringen. Deshalb erscheint es subjektiv oft sinnvoller, eine Handlung zu wiederholen, als sie durch eine Korrektur nachträglich in Frage zu stellen. Wenn man sich also ein erstes Mal für das Wegducken entschieden hat, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass man dies in analogen Situationen ein zweites, drittes, viertes Mal tun wird. Und umgekehrt wird es immer unwahrscheinlicher, dass man vom einmal eingeschlagenen Weg noch abweichen würde. Und dies wiederum bietet die Basis für einen dritten grundlegenden psychologischen Mechanismus: dass man nämlich als Teil eines ablaufenden gesellschaftlichen Umbauvorgangs zu Beginn noch gegen Geschehnisse aufbegehren würde, die man nur wenig später gleichgültig toleriert. Wären also bei dem geschilderten SA-Überfall die jüdischen Kollegen nicht „bescheiden" gegangen, sondern von der SA in Gegenwart Haffners geschlagen, verletzt oder gequält worden, wäre dessen Toleranzschwelle vermutlich überschritten gewesen.
Mit dem weiteren Fortgang des Umbauprozesses 1934,1936 und eben 1938 werden dann weit schwerer wiegende Verletzungen moralischer Selbstansprüche hingenommen, als man zu Beginn toleriert hätte - weil diese moralischen Selbstansprüche sich eben selbst verändert haben. Dieser Mechanismus erklärt die so irritierende Akzeptanz der Ausgrenzung der jüdischen Deutschen aus der Mehrheitsgesellschaft. Wegsehen, Dulden, Akzeptieren, Mittun und Aktivwerden sind keine grundlegend voneinander verschiedenen Verhaltensweisen, sondern Stadien auf einem Kontinuum der Veränderung von Werten.
Der sensible und kritische Sebastian Haffner jedenfalls findet sich nur wenige Monate später in einem „Gemeinschaftslager für Referendare" in Jüterbog wieder und begegnet sich dabei, wie er nationalsozialistische Lieder singt, Wehrsportübungen absolviert, weltanschaulich geschult wird und dabei „Schmiere steht", als ein Referendar einem „Femegericht" unterworfen, also gemeinschaftlich verprügelt wird.
Abends in der Kantine lauscht man einer Ansprache Hitlers im Radio. „Als er ausgeredet hatte, kam das Schlimmste. Die Musik signalisierte: Deutschland über alles, und alles hob die Arme. Ein paar mochten, gleich mir, zögern. Es hatte so etwas scheußlich Entwürdigendes. Aber wollten wir unser Examen machen oder nicht? Ich hatte, zum ersten Mal, ein Gefühl so stark wie ein Geschmack im Munde - das Gefühl: ,Es zählt ja nicht. Ich bin es ja gar nicht, es gilt nicht.' Und mit diesem Gefühl hob auch ich den Arm und hielt ihn ausgestreckt in die Luft, ungefähr drei Minuten lang. So lange dauern das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Die meisten sangen mit, zackig und dröhnend. Ich bewegte ein wenig die Lippen und markierte Gesang, wie man es in der Kirche beim Choralsingen tut. Aber die Arme hatten alle in der Luft, und so standen wir vor dem augenlosen Radioapparat, der nun die Arme hochzog wie ein Puppenspieler die Arme seiner Marionetten, und sangen oder taten so, als ob wir sangen; jeder die Gestapo des anderen."13

Haffner zeigt hier eindrucksvoll nicht nur den sukzessiven Umbauprozess des von ihm für akzeptabel gehaltenen Verhaltens, sondern auch dessen Feinabstimmung in der gemeinsamen sozialen Praxis. Der Umbau der Verhaltensnorm kommt weder von außen noch ist er ein individueller Vorgang, sondern einer, der sich in jener wechselseitigen Bestätigung bildet, die soziales Handeln selber ist. So, und zwar bei allem „inneren" Widerstand und bei aller Kritik, wird auch Sebastian Haffner zu einem Kameraden unter anderen, und sein einziges Mittel zur Wahrung seiner persönlich wahrgenommenen Integrität besteht im Rückgriff auf eine innere Distanzierung: „Ich trug eine Uniform mit Hakenkreuzbinde. Ich stand stramm und putzte mein Gewehr. Aber das alles galt ja gar nicht. Ich war nicht gefragt worden, ehe ich es tat. Es war ja gar nicht ich, der es tat. Es war ein Spiel, und ich spielte eine Rolle."14

Man sieht, es ist die Rollendistanz, die die Teilhabe an einem Verhaltensmodell erlaubt, das die Person sich selbst nur kurze Zeit zuvor keineswegs gestattet hätte. Wenn man solche Veränderungen von Verhaltensnormen als „moralische Korrumpierung" oder „Wegfall von Hemmungen" interpretiert, um die gegenmenschlichen Verhaltensweisen im Nationalsozialismus zu erklären, greift man zu kurz: Denn hier wird das als „normal" definierte zwischenmenschliche Verhalten als Ganzes verändert, und die Orientierungen der Einzelnen verändern sich auf von ihnen selbst unbemerkte Art und Weise in diesem Rahmen mit. Das Erstaunlichste daran ist, wie schnell das alles gehen kann. Die Sensibilität Haffners im Registrieren und Durchschauen jener subtilen, vielleicht in jedem Einzelschritt harmlos scheinenden Wahrnehmungs- und Orientierungsveränderungen, die in ihm selbst vorgingen, als der Nationalsozialismus die gesellschaftliche Deutungs- und Handlungshoheit übernahm, ist von wohl einzigartiger sozialpsychologischer Qualität. Sie macht die Lektüre seines Buches zu einer verstörenden Erfahrung - einer Erfahrung, aus der man etwas lernen kann über den Prozess, in dem „ganz normale" Menschen sich bereitwillig, gleichgültig oder widerwillig für die Unmenschlichkeit entscheiden.
Das Entstehen eines solchen Prozesses ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Es hat nach dem Holocaust weitere Völkermorde gegeben, und ihr Ausgangspunkt ist immer die kategoriale Unterscheidung von Menschengruppen gewesen: „Arier" und „Juden" in Deutschland, „Hutu" und „Tutsi" in Ruanda, „neue" und „alte" Menschen in Kambodscha. Solche Unterscheidungen bleiben aber nicht abstrakt, sondern übersetzen sich regelmäßig in eine soziale Praxis, in der man es schnell für selbstverständlich hält, dass für unterschiedliche Gruppen verschiedene Rechts- und Verhaltensnormen bestehen und in denen es am Ende sogar als moralisch gilt, andere Menschen zu demütigen, sie zu entrechten, zu berauben, zu deportieren und schließlich zu ermorden.
Dabei ist es zweifellos jeweils etwas anderes, ob ich die Straßenseite wechsele, wenn mir ein jüdischer Bekannter begegnet, weil ich fürchte, in eine peinliche Situation zu geraten, oder ob ich in die schöne Wohnung ziehe, aus der zuvor eine jüdische Familie getrieben wurde, oder ob ich den Tod eines Menschen durch eine Unterschrift unter ein ärztliches Formular anordne, oder ob ich Krematoriumsöfen entwerfe, oder ob ich als Angehöriger eines Reservepolizeibataillons jüdische Frauen und Kinder ermorde. All dies sind qualitativ verschiedene Stufen, die unterschiedlich schwierig zu überschreiten sind, aber ich fürchte, es handelt sich dabei am Ende um ein Kontinuum, an dessen Anfang etwas scheinbar Harmloses steht und dessen Ende durch die Vernichtung markiert ist. Es ist nur für die meisten Menschen wichtig, die ersten Stufen überschritten zu haben, um die letzten überschreiten zu können.
Das Perfide liegt aber darin, dass den allermeisten beim Überschreiten der ersten Stufe die letzte noch ganz intolerabel erschiene, während es gute Gründe zu geben scheint, eben den ersten, scheinbar nicht so schlimmen Schritt zu tun - und das ist vielleicht nur ein kleines Vergehen gegen eine ohnehin fragile innere Überzeugung, gegen ein moralisch unangenehmes Gefühl. Aber das ist der Augenblick, in dem die Entscheidung für die Unmenschlichkeit bereits gefallen ist.

13 Haffner, a.a.O., S. 263.
14 Ebd., S. 275.

Erinnerungskulturelle Dauerspannung

Auch innerhalb moderner Gesellschaften können sich Potentiale der Unmenschlichkeit entfalten und in ungeahnter Geschwindigkeit ausbreiten. Das Deutschland des sogenannten Dritten Reiches ist bis heute das exemplarische Beispiel dafür. Und hier ist der eigentliche Grund für die nachhaltige Fortexistenz jenes absurden Geschichtsbildes vom Nationalsozialismus ohne Nazis zu suchen, wie es sich im Fall Oettinger einmal mehr manifestierte.
Der Fall Oettinger zeigt allerdings auch, dass die Gesellschaft es nicht mehr unwidersprochen hinnimmt, wenn historische Gewissheiten wider besseres Wissen in Frage gestellt werden. In aller Regel regt sich umgehend Protest, und der berechtigten Skandalisierung folgt eine klärende Debatte. Die Ereignisse der letzten Wochen belegen somit, wie bereits der Fall Filbinger vor 30 Jahren, dass das Geschichtsbewusstsein dieser Gesellschaft so weit fortgeschritten ist, dass man mit einer solchen Position zumindest nicht mehr unwidersprochen durchkommt.
So bleibt als Resümee, dass erinnerungskulturelle Grundspannungen dauerhaft fortbestehen können, wenn das zugrunde liegende Geschichtsereignis so extrem war, dass es selbst über Generationen hinweg nachhaltige Unsicherheiten erzeugt - der Vergangenheit und sich selbst gegenüber. Deshalb wird sich die Diskrepanz zwischen der faktischen und der gefühlten Geschichte in Deutschland auch nicht aufheben lassen. Genau aus diesem Grund wird es aber Zeit, die Alltagsseite des Nationalsozialismus, und das ist die psycho-soziale Herstellung von Unmenschlichkeit als Normalität, stärker ins Licht der Forschung und besonders auch der Pädagogik zu rücken und sich endlich realistisch mit der Frage zu konfrontieren, wieso ganz normale Menschen in der Lage sind, sich für ganz und gar unmenschliche Verhaltensweisen zu entscheiden.

Harald Welzer - Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2007

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