Wer
waren die Nazis ?
Günther Oettinger und die
gefühlte Geschichte Von Harald Welzer
Wenn
Politiker sich über Geschichte äußern, betreiben sie
unweigerlich Geschichtspolitik. Ob das fahrlässig geschieht,
weil das Geschichtsgefühl eines Ministerpräsidenten es
nicht zulässt, sich einen seiner Amtsvorgänger als Nazi
vorzustellen, oder absichtsvoll, um die Grenzen des wieder Sagbaren
abzuklopfen, sei dahingestellt - der Fall Oettinger zeigt jedenfalls
einmal mehr, dass erinnerungskulturelle Landschaften nicht durch
kognitives Geschichtswissen allein gestaltet sind, sondern ihre
Konturen durch Emotionen und Wünsche an die Vergangenheit
bekommt. Deshalb artikuliert sich hier immer auch das Bedürfnis
nach einer guten Geschichte, und in einer solchen kommen schlechte
Menschen natürlich nicht vor, schon gar nicht, wenn man zu ihnen
in einem Verhältnis der Loyalität steht.
Das
klassische Vergangenheitsmodell, wie es am Beispiel Filbingers wieder
gezeichnet wurde und das durch noch so intensive historische
Forschung nicht aus der Welt zu bringen zu sein scheint, entspricht
der Raumschifftheorie des Nationalsozialismus, die in etwa besagt,
dass 1933 ein UFO gelandet ist, aus dem „die Nazis"
ausgestiegen sind, das deutsche Volk und besonders seine Eliten
verführt und zu beispiellosen Verbrechen verleitet haben, um
dann, nach dem Holocaust und dem verlorenen Krieg, einfach wieder
abzufliegen und ein diffus schuldbewusstes, im Ganzen aber doch
unschuldiges und erheblich irritiertes Volk zurückzulassen, das
seitdem das beträchtliche Problem hat, einen komfortablen Platz
in der Geschichte zu finden.
Der Versuch des
baden-württembergischen Ministerpräsidenten, seinen
Vorgänger, den vormals nicht nur der NSDAP, sondern auch der SA
angehörenden und an Todesurteilen mitwirkenden ehemaligen
Marinerichter Hans Filbinger kurzerhand zu einem Gegner des
NS-Systems umzudefinieren, hat in besonders prägnanter Weise
gezeigt, wie auch heute noch der eigentlich erreichte und
vermeintlich gesicherte Stand der historischen Forschung zum
Nationalsozialismus verlassen werden kann.
Der prinzipiell
existierende Widerspruch zwischen historischer Forschung und
gefühlter Geschichte wird im deutschen Fall noch dadurch
verschärft, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen
Vergangenheit nur in einer sehr gebrochenen Weise geschehen ist. Die
deutsche Gesellschaft hat sich erst nach langen Jahren des
Schweigens, dann aber über Jahrzehnte immer intensiver damit
konfrontiert, was die deutsche Vergangenheit gewesen ist. Dieser
Prozess begann langsam in den 60er Jahren und erreichte überhaupt
erst in den 80er Jahren das Niveau einer einigermaßen offenen
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Es gibt aber bis heute eine
eklatante Lücke in dieser Auseinandersetzung, nämlich ein
Ausklammern des psychosozialen Prozesses, in dem das Grauen der
radikalen Ausgrenzung, der Beraubung, der Deportation und schließlich
der Vernichtung hergestellt wird.
Der Nationalsozialismus
erscheint bis heute eigentümlich unbevölkert und
unalltäglich, ohne Alltagskonturen, und deshalb ist der Fall des
merkwürdig geschichtsvergessenen Ministerpräsidenten
keineswegs isoliert zu betrachten. Er stellt nur ein weiteres
Beispiel in einer schier endlosen Kette erinnerungspolitischer
Verspannungen dar, die die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik
geprägt haben. Ob Martin Waiser oder Filbinger/Oettinger, stets
geht es um eine trotzige Weigerung, das einmal erreichte Niveau von
Geschichtsbewusstsein zu akzeptieren und verbohrt darauf zu bestehen,
dass in Wahrheit alles doch ganz anders gewesen sei.
Auch bei
Oettinger haben sich, ganz in Übernahme der persönlichen
Perspektive Filbingers, „Millionen andere Deutsche" den
Zwängen des nationalsozialistischen Regimes nicht entziehen
können. In dieser, seit Ende des Krieges existierenden und immer
wieder verteidigten Erzähltradition gab es immer nur äußere
Gründe dafür, ein Nazi gewesen zu sein. Und wenn man doch
einer war (und sich dies auch nicht länger leugnen ließ),
dann stets nur rein „formell" (Filbinger) und
hauptsächlich, um die eigene Position dafür zu nutzen, das
Schlimmste doch noch zu verhindern. Der Fall Oettinger zeigt somit
nur einmal mehr, wie sehr sich diese Erzählfigur bis heute in
den Alltags-, Familien-, aber auch politischen Diskursen gehalten
hat. Wenn Menschen anfangen, deutsche Geschichte individuell zu
betrachten, endet das noch immer oft so, dass es außer Hitler,
Himmler, Goebbels und Göring keine Nazis gegeben hat. Dabei
existiert heute jede Menge belastbares Material, wie die Verstrickung
in das System tatsächlich ausgesehen hat, etwa die
Untersuchungen über die Rolle der ganz normalen Deutschen wie
Götz Alys „Hitlers Volksstaat" oder Peter Longerichs
„Davon haben wir nichts gewusst".
Und damit beginnt das
eigentliche Problem, an dem sich auch 60 Jahre nach Ende des
Nationalsozialismus nichts grundlegend geändert hat - die
Schwierigkeit zu akzeptieren, dass sich Menschen, die sich selbst für
moralisch, rechtschaffen und gut halten, in erschreckend kurzer Zeit
für ausgrenzendes, diskriminierendes und in letzter Konsequenz
sogar für mörderisches Verhalten anderen gegenüber
entscheiden konnten. Immer wieder kommt es deshalb nicht nur in der
Politik oder in den Alltagserinnerungen, sondern auch in der
Wissenschaft zu Versuchen, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu
exterritorialisieren, so, als hätten nicht die nichtjüdischen
Deutschen sie begangen, sondern irgendjemand anderes.
Der jüngste
größere Versuch dieser Art stammt von Konrad Löw,
Emeritus für Politische Wissenschaft der Universität
Bayreuth, und war zu lesen in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung" vom 1. März diesen Jahres. Auf einer ganzen Seite
unternimmt Löw hier den Versuch, den Stand der gegenwärtigen
historischen Forschung, demzufolge „die Deutschen nicht nur von
den Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber wussten,
sondern darüber offen informiert wurden und weit aktiver, als
bisher bekannt war, mithalfen - durch Zustimmung, Denunziation oder
Mitarbeit" (Bundeszentrale für politische Büdung),
dadurch zu konterkarieren, dass er seinen Kollegen selektive
Verwendung der benutzten Quellen vorwirft.
Er selbst zitiert als
Beleg dafür unter anderem Victor Klemperer, der am 25. April
1933 in sein Tagebuch eingetragen habe, „dass er die Deutschen
insgesamt nicht für besonders antisemitisch halte". Bei
Klemperer steht unter diesem Datum aber etwas ganz anderes, nämlich
eine bedrückende Auflistung antisemitischer Maßnahmen und
freiwilliger Aktionen, unter anderem von Studenten. „Ich
notiere nur das Grässlichste", betont Klemperer, „nur
Bruchstücke des Wahnsinns, in den wir immerfort eingetaucht
sind." Und er resümiert: „Das Schicksal der
Hitlerbewegung liegt fraglos in der Judensache. Ich begreife nicht,
warum sie diesen Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm
gehen sie zugrunde. Wir aber wahrscheinlich mit ihnen." Und
selbst wenn man diese Passage so freihändig interpretieren mag,
wie Konrad Löw es sich traut, bleibt ja immer noch
unbeantwortet, wie es eigentlich geschieht, dass sich innerhalb nur
weniger Jahre eine ganze Gesellschaft normativ umzuformatieren vermag
und gegenmenschliche Verhaltensweisen nicht nur für normal zu
halten beginnt, sondern auch - in je unterschiedlicher Weise, an je
unterschiedlicher Stelle - mehrheitlich praktiziert.
Denn heute
wissen wir aus den Arbeiten Karl-Heinz Reubands oder Götz Alys,
dass die Zustimmung zum Regime bis 1939 kontinuierlich anwuchs und
erst ab 1941, mit den ersten Zweifeln an einem schnellen Endsieg,
rapide zu sinken begann. Das bedeutet, dass für die meisten
nichtjüdischen Deutschen Ereignisse wie die sogenannte
Reichskristallnacht oder die fortschreitende Arisierung oder auch die
alltägliche Niedertracht im Umgang mit den Juden ihre Loyalität
zum System überhaupt nicht einschränkten, ja sie vielleicht
sogar beförderten.
Das nationalsozialistische Deutschland ist
damit ein Modellfall für eine Gesellschaft, in der innerhalb
weniger Jahre zur allseits akzeptierten Norm wurde, was zuvor als
völlig undenkbar gegolten hatte: die Ausgrenzung, Entrechtung,
Beraubung, Deportation und schließlich Vernichtung eines Teils
der eigenen Bevölkerung. Was in dieser Gesellschaft innerhalb
weniger Jahre geschah, lässt sich als ein fundamentaler
Wertewandel beschreiben, in dem die substanziellsten Normen der
Solidarität, der Hilfeleistung, des Beistands und auch nur des
Mitleids abhanden kamen, oder genauer gesagt: durch andere Normen
ersetzt wurden.
Wie aber waren die nichtjüdischen Deutschen
in der Lage, ihre neuen gegenmenschlichen Verhaltensweisen mit der
Vorstellung in Einklang zu bringen, dass sie selbst nach wie vor
moralisch handelnde, also „gute" Menschen waren? Und wie
ist es möglich, dass diese Sicht der Dinge bis heute immer noch
fortwirkt und weiter tradiert wird? Um dies tatsächlich zu
begreifen, ist es erforderlich, immer wieder nachzuzeichnen, wie und
warum die Menschen in Deutschland sich zwischen 1933 und 1945 in
millionenfacher Zahl und zumeist Schritt für Schritt für
die Unmenschlichkeit entschieden haben.
Die Struktur des Nichtwissens
Zuvor
gilt es jedoch ein methodologisches Problem zu thematisieren: Wie für
jede andere geschichtliche Epoche gilt auch für den
Nationalsozialismus, dass Ereignisse, die die Nachwelt als
historische zu bewerten gelernt hat, in der Echtzeit ihres Entstehens
und Auftretens nur selten als solche empfunden werden. Wenn sie
überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines
Alltags, in dem noch unendlich viel mehr wahrgenommen wird und
Aufmerksamkeit beansprucht. In dem Augenblick, in dem Geschichte
stattfindet, erleben Menschen Gegenwart.
Historische Ereignisse
zeigen ihre Bedeutung also erst im Nachhinein, nämlich dann,
wenn sie nachhaltige Folgen gezeitigt haben oder sich, mit einem
Begriff von Arnold Gehlen, als „Konsequenzerstmaligkeiten"
erwiesen haben, also als präzedenzlose Ereignisse mit
Tiefenwirkung für alles, was danach kam. Damit ergibt sich ein
methodisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen von
solch einem Ereignis wahrgenommen bzw. gewusst haben.
Erstmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht
wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, nicht
mit Erfahrungen abgleichen kann. Aus diesem Grund haben
beispielsweise viele jüdische Deutsche die Dimension des
Ausgrenzungsprozesses nicht erkannt, dessen Opfer sie wurden.1
Geschichte geschieht somit nicht punktuell, sondern sie ist ein für die begleitende Wahrnehmung langsamer Prozess, der erst durch Begriffe wie „Zivilisationsbruch" nachträglich auf ein abruptes Ereignis verdichtet wird. Die Interpretation dessen, was Menschen vom Entstehen eines Prozesses wahrgenommen haben, der sich erst sukzessive zur Katastrophe auftürmte, ist ein äußerst vertracktes Unterfangen - auch deswegen, weil wir unsere Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung mit dem Wissen darum stellen, wie die Sache ausgegangen ist. Über dieses Wissen verfügten die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen logischerweise nicht. Norbert Elias hat es nicht zu Unrecht als eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat.2
Schließlich
muss der Holocaust als ein genozidaler Prozess betrachtet werden, der
Ende Januar 1933 begann und mit der Befreiung der Lager im Frühjahr
1945 zu Ende ging. Dabei ist der sich in unterschiedlichen
Intensitätsschüben vollziehende Ausgrenzungs-,
Ausschließungs-, Beraubungs- und Deportationsprozess von dem
mit Kriegsbeginn 1939 experimentierten, aber mit dem Überfall
auf die Sowjetunion im Juni 1941 in aller Radikalität
einsetzenden Vernichtungsprozess zu unterscheiden. Denn während
die Vernichtung einer, wie Longerich sie nachgezeichnet hat,
flexiblen Geheimhaltungspolitik unterlag, die ab Mitte 1942 auf ein
komphzenhaftes, wenn auch ominöses Mitwissen der Deutschen
setzte,3 fanden alle Einzelschritte des sozialen
Ausgrenzungsprozesses der jüdischen Deutschen in der
Öffentlichkeit statt. In Deutschland vollzog sich vom Tag der
sogenannten Machtergreifung an ein fundamentaler Wertewandel, in dem
es zunehmend als normal empfunden wurde, dass es kategorial
unterschiedliche Menschengruppen gab, für die entsprechend
unterschiedliche Normen des zwischenmenschlichen Umgangs auf der
einen und der Rechtsetzung und -anwendung auf der anderen Seite
galten.4 Hier geht es nicht darum, was man „gewusst",
sondern woran man teilgehabt hat - im Augenblick des Ereignisses, des
Geschehens von Geschichte.
Hinzu kommt: Menschen ordnen das, was
sie wahrnehmen, in Deutungsrahmen ein, die ihnen helfen, zu
interpretieren, was vor sich geht, und diese Interpretationen bilden
wiederum die Basis dafür, welche Entscheidung sie dann treffen,
etwas zu tun oder etwas zu unterlassen. Wir alle deuten die Welt
nicht in jeder Situation neu, sondern wir nehmen diese Situationen
mit Hilfe von sogenannten Referenzrahmen wahr. Solche Rahmen setzen
sich aus Wissensbeständen, Erfahrungswerten, selbstverständlich
vorausgesetzten Hintergrundannahmen („das ist so", „das
macht man so" etc.), sozialisierten Haltungen und Habitusformen,
situativ wahrgenommenen Anforderungen, dem Handeln der Anderen,
Aufträgen oder Befehlen und anderem mehr zusammen. Sie bilden
komplexe Orientierungskarten, soziale Navigationssysteme -
Referenzrahmen leiten den Entscheidungsprozess an, der jemanden zu
einer Schlussfolgerung und dann zu einer Handlung führt. Um also
zu verstehen, warum jemand etwas macht, ist es wichtig, den
Referenzrahmen zu kennen, an dem er sein Handeln orientiert - vor
allem dann, wenn einem die Handlung vollkommen unverständlich
erscheint, sinnlos, irrational, grausam.
1
Vgl. Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der
Juden 1933-1945, Frankfurt a.M. 1992, S. 138.
2 Vgl. Norbert
Elias, Was ist Soziologie? München 2004.
Das NS-System als Welt der kategorialen Ungleichheit
Die
nationalsozialistische Welt war eine Welt der kategorialen
Ungleichheit von Menschen - auf der einen Seite die „Arier",
auf der anderen Seite die Juden und andere Gruppen, die den Kriterien
des Herrenmenschentums nicht entsprachen. Kategorial bedeutet: Kein
Mitglied der einen Gruppe konnte aus eigener Initiative, aus eigener
Anstrengung in die andere wechseln. Diese kategoriale Ungleichheit
von Menschen bestand im Nationalsozialismus nun aber nicht nur in der
inhumanen Vorstellungswelt irgendwelcher Phantasten, sondern war
fester Bestandteil beispielsweise des wissenschaftlichen Know-hows
der Rassekundier und Eugeniker, sie bestimmte das Weltbild von
Juristen, Raumplanern und Journalisten und war Teil einer gelebten
sozialen Praxis, die aus den dazugehörenden Mitgliedern einer
Volksgemeinschaft und jenen bestand, die per definitionem nicht
dazugehörten. Diese Gesellschaft war durch eine abgrundtiefe
soziale Spaltung gekennzeichnet, und was uns von heute aus so schwer
nachvollziehbar erscheint, ist der bedrückende Umstand, dass
diese Spaltung eben nicht nur eine Frage der Ideologie oder der
Theorie blieb, sondern sich innerhalb erschreckend kurzer Zeit durch
alle gesellschaftlichen Vermittlungs- und Handlungsebenen
herunterdeklinierte und die soziale Wirklichkeit vollständig
durchdrang.
Die Frage ist, wie und warum diese Spaltung von ganz
normalen Menschen im Alltag praktiziert wurde, warum eine so radikale
Differenzierung der Welt in eine „Wir-Gruppe" von
Zugehörigen und eine „Sie-Gruppe" von
Ausgeschlossenen als attraktiv und lebbar erschien. Diese Frage harrt
bislang noch einer Antwort. Allzu lange nämlich hat sich die
Kultur der Vergangenheitsbewältigung mit einem
Gesellschaftsmodell begnügt, das aus Tätern, Opfern,
Zuschauern und Mitläufern besteht. Ich glaube nicht, dass mit
solchen Kategorien der Handlungszusammenhang, der schließlich
in den Massenmord und in die Vernichtung führte, angemessen
beschrieben werden kann. Es gibt nämlich in einem solchen
Zusammenhang keine Zuschauer, es gibt auch keine Mitläufer. Es
gibt nur Menschen, die gemeinsam, jeder auf seine Weise, der eine
intensiver und engagierter, der andere skeptischer und
gleichgültiger, eine gemeinsame soziale Wirklichkeit herstellen.
Die Rede von den missbrauchten Wissenschaftlern, von den verführten
Massen, von den infizierten Jugendlichen, kurz: von den „in den
Zwängen des NS-Systems" (Oettinger) Befindlichen
unterstellt immer schon, dass all diese Menschen nicht tätig
teilgehabt hätten an einem gegenmenschlichen Projekt, dass ihnen
in dem Maße verheißungsvoll erschien, wie es für die
anderen, die, die nicht dazugehörten, verhängnisvoll war.
Dabei war es genau dieses Projekt, zu dem man beitragen konnte und
wollte und das die eigenen Lebensbedingungen auf mindestens tausend
Jahre zu verbessern versprach, das die ungeheuren destruktiven
Energien freisetzte, die heute noch sprachlos machen. Es war das
Versprechen der Zugehörigkeit, das als attraktiv empfunden
wurde, und es war die umstandslose Transformation von Ideologie in
Wirklichkeit, die den Nationalsozialismus mit jener psychosozialen
Durchschlagskraft versehen hat, dass er bis heute Faszination
auszustrahlen vermag, etwa wenn der Opa von der tollen Zeit in der
Hitlerjugend und die Oma von den Gemeinschaftserlebnissen beim BDM
erzählt.
Mir scheint, man kann das alles nur dann verstehen,
wenn man sich vorstellt, dass in einem sozialen Gefüge lediglich
eine einzige Koordinate verschoben werden muss, um das Ganze zu
verändern - um eine Wirklichkeit zu etablieren, die ganz anders
ist als die, die bis zum Zeitpunkt dieser Koordinatenverschiebung
bestanden hatte. Diese Koordinate heißt soziale Zugehörigkeit.
Ihre Verschiebung besteht in der radikalen Neudefinition dessen, wer
zum eigenen moralischen Universum zählt und wer nicht - wer also
zur Wir-Gruppe gehört und wer als Angehöriger einer
Sie-Gruppe ein Anderer, ein Fremder und schließlich ein
tödlicher Feind ist.
Freilich gehört zu dieser
Aufteilung eine Definition dessen, wer zugehörig sein kann und
wer nicht - und wenn eine solche Definition einmal vorgenommen worden
ist, ist es nur noch eine graduelle, keine prinzipielle Frage mehr,
wie mit den Nicht-Zugehörigen zu verfahren sei. Ganz in diesem
Sinn hat Raul Hilberg formuliert, dass das Schicksal der europäischen
Juden in dem Augenblick besiegelt war, als ein Beamter Anfang 1933
eine Definition dessen, wer „arisch" war und wer nicht, in
einer Verordnung niederlegte. Warum? Weil in einem solchen Augenblick
praktisch ausführbar wird, was zuvor in einem durch bürgerliches
Recht kontrollier- und korrigierbaren Raum des rassistischen
Ressentiments, der Ausgrenzungs- und Vernichtungswünsche zwar
schon vorhanden war, aber nicht zur freien Entfaltung kommen konnte.
Die Definition schafft also zuallererst ganz neue Möglichkeiten
- ein Angebot an eine Mehrheit, sich auf Kosten einer Minderheit
sozial, emotional und sehr schnell auch materiell aufzuwerten. Sie
hebt Bedürfnisse, die auch in anderen Gesellschaften sehr viele
Menschen hegen, aus dem Status des Wünschens in den Status einer
realisierbaren und realisierten Wirklichkeit. Mit dem definitorischen
Akt des besagten Beamten wird eine prinzipielle und unüberbrückbare
Unterschiedlichkeit von Menschen handfeste Realität, wie sie
zuvor schon von den Rassebiologen wissenschaftlich konstruiert worden
war und wie sie im sozialen Alltag in Vorurteil, Stereotyp und
Ressentiment auf der Ebene der Vorstellungen ohnehin bereits
existiert hatte.
3
Vgl. Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!"
Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945, München 2006,
S. 263 ff.
4 Vgl. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen
Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005, S. 48 ff.
Die Abkehr vom universalistischen Menschheitskonzept
Die
Ungeheuerlichkeit des nationalsozialistischen Projekts liegt in der
expliziten Abkehr vom universalistischen Konzept von Menschheit, das
sich in den bürgerlichen Gesellschaften seit der Aufklärung
durchzusetzen begonnen hatte. Dass das Konzept vom „Herrenmenschen"
und „Untermenschentum" für die nichtjüdischen
Deutschen so attraktiv war, lag nun aber nicht nur in dem bloßen
Versprechen, dass mit diesem Konzept alles besser würde, sondern
in der unmittelbaren Umsetzung dieses Versprechens in Praxis. Jeder
Schritt im rapide sich vollziehenden Ausgrenzungsprozess der Juden
verschlechterte nicht nur deren Lage, sondern verbesserte im
selben Zug die Lage der nichtjüdischen Deutschen und schuf eine
veränderte Wirklichkeit für sie.
Die eine Seite dieser
Wirklichkeit bestand etwa im Ausschluss von Juden aus allen Sorten
von Vereinen, Verbänden, Organisationen, Berufen und
Aktivitäten, sie bestand in der Passivität der Polizei
gegenüber antijüdischen Gewaltaktionen, sie bestand in der
alltäglich bestätigten Wahrnehmung, dass all dies möglich
war, ohne dass irgendjemand diesen eigentlich ungewöhnlichen
Vorgängen Einhalt gebot oder auch nur Einspruch dagegen erhob.
Und umgekehrt bestand sie in der kontinuierlichen Anfütterung
des materiellen und psychologischen Wohlstandsniveaus der
Zugehörigen.
Aus sozialpsychologischer Sicht kann hier nicht
deutlich genug betont werden, dass jeder einzelne, oft beiläufige
und unscheinbare Schritt in einem Gesellschaftsumbau folgenreich für
die Selbstwahrnehmung der Einzelnen im sich verändernden
kollektiven Gefüge ist: In dem sozialen Zusammenhang, den
Zugehörige und Nicht-Zugehörige gemeinsam bilden, bedeutet
jede Positionsveränderung der Anderen zugleich auch eine
Veränderung der eigenen Position: „Als sich besagte
achtzig Millionen", schreibt Hannah Arendt, „auf die Suche
nach dem gefürchteten jüdischen Großvater machten,
war eine Art Einweihungsritual erreicht: Jedermann kam aus der Sache
mit dem Gefühl heraus, zu einer Gruppe von .Eingeschlossenen 'zu
gehören, denen eine imaginäre Masse von .Ausgeschlossenen'
gegenüberstand."5 Die Aufwertung zum
„Herrenmenschen" oder zum „Arier" ist eine
Sache des Gefühls, aber eines Gefühls, das ein immer
festeres, unwiderstehlicheres Widerlager in der sich verändernden
Wirklichkeit des „Dritten Reiches" fand.
Die
Wirklichkeit veränderte sich auf diese Weise tatsächlich
von Tag zu Tag, und Interviews mit ehemaligen Volksgenossinnen und
-genossen legen bis heute Zeugnis ab von der psychosozialen
Attraktivität und emotionalen Bindungskraft dieses Ein- und
Ausschließungsprozesses. Nicht umsonst besteht bis heute
weitgehende Übereinstimmung unter den Zeitgenossen, dass das
„Dritte Reich" mindestens bis zum Russlandfeldzug als
„schöne Zeit" zu beschreiben sei; bei vielen geht
diese Zuordnung auch noch bis weit in den Krieg hinein. Und die bis
heute ungebrochene Darstellung, man habe „die Geschichte mit
den Juden" gar nicht mitbekommen, geht nicht auf Verdrängung
zurück, sondern auf die gefühlte Selbstverständlichkeit,
dass man nunmehr in einer Gesellschaft lebte, die mit vollem Recht
ausschließlich aus nichtjüdischen Deutschen bestand und
bestehen sollte: Die Ausgrenzung, Verfolgung und Beraubung der
Anderen wurde kategorial gar nicht als solche erlebt, weil diese
Anderen per definitionem eben schon gar nicht mehr dazugehörten
und ihre anti-soziale Behandlung den Binnenbereich der Moralität
und Sozialität der Volksgemeinschaft gar nicht mehr berührte.
Die Mikroebene des sozialen Alltags
Wie sieht das alles auf der Mikroebene des sozialen Alltags aus? Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf das Jahr 1933 werfen, wo die so ungeheuer beschleunigte Praxis der Ausgrenzung der Juden ihren Anfang nimmt, und zwar ohne relevanten Widerstand der Mehrheitsbevölkerung - obwohl der eine oder andere nunmehrige Volksgenosse über den „SA- und Nazipöbel" durchaus die Nase rümpfte oder die einsetzende Kaskade der antijüdischen Maßnahmen als unfein, ungehörig, übertrieben oder einfach als inhuman empfand. Was ich mit „ungeheuer beschleunigt" meine, lässt sich mit einer Auflistung von Saul Friedländer illustrieren: „Im März 1933 untersagte die Stadt Köln Juden die Benutzung städtischer Sportanlagen. Vom 3. April an mussten in Preußen Anträge von Juden auf Namensänderung dem Justizministerium vorgelegt werden [...]. Am 4. April schloss der deutsche Boxer-Verband alle jüdischen Boxer aus. Am 8. April sollten alle jüdischen Dozenten und Assistenten an Universitäten des Landes Baden unverzüglich entlassen werden. Am 18. April entschied der Gauleiter von Westfalen, dass einem Juden das Verlassen des Gefängnisses" auf Kaution nur gestattet würde, wenn der Kautionssteller bereit wäre, „an seiner Stelle ins Gefängnis zu gehen. Am 19. April wurde der Gebrauch des Jiddischen auf Viehmärkten in Baden verboten. Am 24. April wurde die Verwendung jüdischer Namen zum Buchstabieren im Telefonverkehr untersagt. Am 8. Mai verbot es der Bürgermeister von Zweibrücken Juden, auf dem nächsten Jahrmarkt Stände zu mieten. Am 13. Mai wurde die Änderung jüdischer Namen in nichtjüdische verboten. Am 24. Mai wurde die restlose Arisierung der deutschen Turnerschaft angeordnet, wobei die vollständige arische Abstammung aller vier Großeltern gefordert wurde."6
Besonders
bemerkenswert an dieser äußerst unvollständigen,
lediglich beispielhaften Liste ist zum einen die Kreativität im
Auffinden der unterschiedlichsten Aspekte des „Jüdischen",
wie bei der Buchstabierliste für den Telefonverkehr, zum anderen
das freiwillige, oft vorauseilende Praktizieren antijüdischer
Ausgrenzungsmaßnahmen durch Privatpersonen in Vereinsfunktionen
oder durch Kommunalbeamte, die die entsprechenden Verordnungen
durchaus nicht hätten erlassen müssen, sondern aus freien
Stücken erlassen haben. Das verweist nicht nur auf anti-soziale
Bedürfnisse, die nun unter den neuen Verhältnissen freudig
befriedigt werden, sondern auch darauf, dass solche Maßnahmen
innerhalb der entsprechenden Vereine, Verbände und Kommunen bei
Nicht-Betroffenen auf Zustimmung, jedenfalls nicht auf Protest oder
gar auf Widerstand stoßen.
Auf der Mikroebene des sozialen
Alltags im Nationalsozialismus sind solche Maßnahmen, die
andere treffen, aber von Nicht-Betroffenen natürlich zur
Kenntnis genommen werden, allgegenwärtig. Kaum ein Tag verging
ohne eine neue Maßnahme. Die normsetzende Spitze der
ausgrenzenden Praxis bildete das „Gesetz zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933, das unter anderem die
Versetzung aller „nichtarischen" Beamten in den Ruhestand
vorsah. Noch im selben Jahr wurden 1200 jüdische Professoren und
Dozenten entlassen, ohne dass auch nur eine einzige Fakultät
dagegen protestiert hätte. Am 22. April werden nichtarische
Kassenärzte aus den kassenärztlichen Vereinigungen
ausgeschlossen.7 Am 14. Juli 1933 wird das „Gesetz
zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" verabschiedet.
Wie
immer auch die Gesetze und Maßnahmen bei den einzelnen
Volksgenossinnen und Volksgenossen ankamen - festzuhalten ist, dass
sich in dieser frühen Phase, die ja zumindest auch für die
Nicht-Betroffenen einen erheblichen Wertewandel bedeutete, keinerlei
Unmut seitens der Mehrheitsgesellschaft artikulierte.
Aber was
heißt eigentlich Nicht-Betroffene? Wenn wir den Vorgang der
Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung als einen
Handlungszusammenhang betrachten, ist es logisch eigentlich
unmöglich, von Nicht-Betroffenen zu sprechen: Wenn eine
Personengruppe auf solch schnelle, verdichtete, öffentliche und
nicht-öffentliche Weise aus dem Universum der moralischen
Verbindlichkeit ausgeschlossen wird, dann bedeutet das umgekehrt,
dass sich der wahrgenommene und gefühlte Stellenwert der
Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft erhöht - und
zwar zum einen auf der Ebene jener kollektiven Nobilitierung, die die
praktisch gewordene Theorie von der Herrenmenschenrasse bedeutete.
Vor dem Hintergrund dieser in Gesetze und Maßnahmen gegossenen
Theorie konnte sich noch jeder sozial deklassierte ungelernte
Arbeiter ideell jedem jüdischen Schriftsteller, Schauspieler
oder Geschäftsmann überlegen fühlen, zumal dann, wenn
der ablaufende gesellschaftliche Prozess dann auch die faktische
soziale und materielle Deklassierung der Anderen durchsetzte. Die
Aufwertung, die der einzelne Volksgenosse auf diese Weise erfährt,
besteht zum anderen auch im Gefühl einer relativ verringerten
sozialen Gefährdung - einem ganz neuen Lebensgefühl in
einer exklusiven Volksgemeinschaft, zu der man nach den
wissenschaftlichen Gesetzen der Rassenauslese so unabänderlich
gehört, wie die anderen genauso unabänderlich niemals
gehören können.8
Klaus
Mann bringt die Funktionsweise dieser gefühlten Vorteile an der
Figur von Gustav Gründgens, der in seinem Roman „Mephisto"
Hendrik Höfgen heißt, prägnant zum Ausdruck, wenn er
Höfgen zu Beginn der NS-Herrschaft reflektieren lässt:
„Angenommen aber sogar, die Nazis blieben an der Regierung: was
hätte er, Höfgen, schließlich von ihnen zu fürchten?
Er gehörte keiner Partei an, er war kein Jude. Vor allem dieser
Umstand - dass er kein Jude war - erschien Hendrik mit einem Mal
ungeheuer tröstlich und bedeutungsvoll. Was für ein
unverhoffter und bedeutender Vorteil, man hatte es früher gar
nicht so recht bedacht! Er war kein Jude, also konnte ihm alles
verziehen werden! "9
Dieser Gedanke Höfgens
markiert eine plötzlich gewonnene Sicherheit vor Deklassierung,
wie umgekehrt die definierte Zugehörigkeit zur „jüdischen
Rasse" eine absolute, durch nichts zu kompensierende
Deklassierung bedeutete, wie hoch oder gefestigt die soziale Position
des Betroffenen in der deutschen Gesellschaft zuvor auch immer
gewesen sein mochte. So etabliert der Nationalsozialismus in den
ersten Monaten seiner Herrschaft ein Kollektiv der Eingeschlossenen
und ein Kollektiv der Ausgeschlossenen, eines der Gewinner und eines
der Verlierer.
5
Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer
Herrschaft, München 2005, S. 594.
6 Saul Friedländer,
Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939,
München 1998, S. 49 ff.
7 Alex Bruns-Wüstefeld, Lohnende
Geschäfte. Die „Entjudung" am Beispiel Göttingens,
Hannover 1997, S. 69.
Gesellschaftsumbau und Wertewandel - der Zeitzeuge Haffner
Die
antijüdische Politik war also Herrschaftszweck und
Herrschaftsinstrument in einem, und sie vermochte, wie sich so
erschreckend gezeigt hat, tatsächlich eine enorme Bindekraft
nach innen zu entfalten - eine soziale Komplizenschaft, die in der
Bandbreite von einem freudig angenommenen „Du darfst!"
über achselzuckendes Geschehenlassen bis zu einer passiven
Haltung des schlechten Gewissens reicht.
Sebastian Haffner hat den
ungeheuer schnell ablaufenden Prozess des Gesellschaftsumbaus für
das ganze Jahr 1933 aus eigener Anschauung beschrieben; seine
Darstellung stellt die bis heute einzige systematische Dokumentation
des rapiden Strukturwandels der Öffentlichkeit im Jahr der
sogenannten Machtergreifung Hitlers dar. Hier findet sich die
schonungslose Selbstanalyse eines Zeitgenossen, der die Etablierung
der neuen Verhältnisse nach dem Januar 1933 äußerst
kritisch und angewidert registriert, gleichwohl aber in den
Umbauprozess involviert wird und sich selbst verändert. Was ihn
von den meisten seiner Zeitgenossen unterscheidet, ist vor allem,
dass ihm der Umbau seiner eigenen psychosozialen Verfassung bewusst
ist.
Haffner schildert einen Umbauprozess, der auch die
Verhaltensnormen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder umfasst. Im
März 1933, zwei Monate nach der „Machtergreifung"
Hitlers, sitzt Haffner als junger Gerichtsassessor in der Bibliothek
des Kammergerichts, als SA-Leute das Gericht nach jüdischem
Personal durchsuchen. Dieser Vorgang läuft, wie Haffner
resümiert, erstaunlich unspektakulär ab: „Es war
alles überaus glatt gegangen. Die [jüdischen] Richter
hatten ihre Togen ausgezogen und waren bescheiden und zivil aus dem
Hause gegangen, die Treppe hinunter flankiert von aufgestellten
SA-Leuten. Nur im Anwaltszimmer war es etwas wild zugegangen. Ein
jüdischer Anwalt hatte .Menkenke gemacht' und war verprügelt
worden."10
Haffner selbst nimmt diese
Ereignisse in der Bibliothek sitzend nur von ferne wahr und hofft,
dass sie bald vorüber sein mögen. Aber schließlich
erscheint die SA auch im Leseraum: „Die Tür wurde
aufgerissen, braune Uniformen quollen herein, und einer, offenbar der
Anführer, rief mit schallender, strammer Ausruferstimme:
.Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen!' Es fiel mir auf,
dass er den gewählten Ausdruck ,Nichtarier' und den höchst
ungewählten .Lokal' verwendete. Wieder antwortete einer [...]:
.Sind schon raus!' Unsere Wachtmeister standen in einer Haltung da,
als wollten sie die Hand an die Mütze legen. Mir schlug das
Herz. Was konnte man tun? Wie wahrte man seine Haltung? Ignorieren,
sich gar nicht sehen lassen! Ich senkte mich auf mein Aktenstück.
Ich las mechanisch irgendwelche Sätze: .Unrichtig, aber auch
unerheblich ist die Behauptung des Beklagten...' Keine Notiz nehmen!
In dem Augenblick kam eine Uniform auf mich zu und machte Front vor
mir: ,Sind Sie arisch?' Ehe ich mich besinnen konnte, hatte ich
geantwortet: ,Ja.' Ein prüfender Blick [...]- und er retirierte.
Mir aber schoss das Blut ins Gesicht. Ich empfand, einen Augenblick
zu spät, die Blamage, die Niederlage. Ich hatte ,ja' gesagt! Nun
ja, ich war ein .Arier', in Gottes Namen. Ich hatte nicht gelogen.
Ich hatte nur viel Schlimmeres geschehen lassen."n
„Schlimmeres" aus der Sicht Haffners, das war zu ignorieren, wie die jüdischen Kollegen und Vorgesetzten abgeführt wurden, und darüber hinaus eine Entscheidung zu treffen: von den Ereignissen, trotz innerer Widerstände, trotz genauer Beobachtung, keine Notiz zu nehmen. Haffner ist einige Jahre später nach England emigriert, und man wird nicht entfernt sagen können, dass er irgendwelche Sympathien für das System gehegt hätte. Gerade deswegen lässt sich der sensiblen Schilderung der Veränderung seines eigenen und des kollektiven Verhaltens ablesen, wie sich die dynamische Modifikation von Verhaltensnormen vollzieht. Dabei spielen drei psychologische Mechanismen wichtige Rollen. Zunächst ist es die Angst vor Repression, die besonders in einer neuen, präzedenzlosen, nicht recht einschätzbaren Situation wirksam wird. Wenn man nicht weiß, was die Regeln sind, neigt man dazu, nicht zu handeln. Die im Fall Haffners nur indirekte Bedrohung durch die SA-Leute wirkt sich als beträchtliche Verhaltensverunsicherung aus und führt zu der Entscheidung, sich in die Akten zu vertiefen, sich also eine Art virtuellen Schutzraum zu konstruieren, ein „Territorium des Selbst" ,12
8
Götz Aly hat darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus
natürlich auch eine Reihe ganz handfester Gratifikationen für
die Volksgenossinnen und -genossen bereithielt: „Wer den
destruktiven Erfolg des Nationalsozialismus verstehen will, der
sollte sich die Schauseite der Vernichtungspolitik ansehen - den
modernen, sozialpolitisch warmgehaltenen Gefälligkeitsstaat."
(Götz Aly, Ich bin das Volk, in: „Süddeutsche
Zeitung", 1.9.2004).
9 Klaus Mann, Mephisto, zit. nach
Friedländer, a.a.O., Das Dritte Reich, S. 22.
10
Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen
1914-1933, München 2002, S. 148.
11 Ebd., S. 148 ff.
12
Als Territorien des Selbst bezeichnet Goffman symbolische oder
soziale Räume, mit deren Hilfe sich Individuen vor Gefährdungen
ihrer eigenen körperlichen oder psychologischen Integrität
zu schützen versuchen (Mit ihrer Hilfe versucht man zu
verhindern, dass man durch andere Körper berührt wird, die
Ausdünstungen anderer Menschen einatmet u.a.). Die
Möglichkeiten, die Territorien des Selbst zu behaupten, sind
vielfältig, aber begrenzt. Man kann sich hinter Büchern
oder Zeitungen verschanzen und auf diese Weise einen symbolischen,
intimen, blickgeschützten Raum etablieren. Vgl. Erving Goffman,
Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur
öffentlichen Ordnung, Frankfurt a.M. 1974.
Sukzessives Wegsehen, fortschreitendes Tolerieren
An
dieser Stelle wird ein weiterer Mechanismus wirksam, der sich in der
Regel verhängnisvoll auswirkt: dass wir nämlich dazu
neigen, etwas, was wir mit einem ambivalenten Gefühl getan
haben, vor uns selbst zu rechtfertigen, mit unserem Selbstbild in
Einklang zu bringen. Deshalb erscheint es subjektiv oft sinnvoller,
eine Handlung zu wiederholen, als sie durch eine Korrektur
nachträglich in Frage zu stellen. Wenn man sich also ein erstes
Mal für das Wegducken entschieden hat, wächst die
Wahrscheinlichkeit, dass man dies in analogen Situationen ein
zweites, drittes, viertes Mal tun wird. Und umgekehrt wird es immer
unwahrscheinlicher, dass man vom einmal eingeschlagenen Weg noch
abweichen würde. Und dies wiederum bietet die Basis für
einen dritten grundlegenden psychologischen Mechanismus: dass man
nämlich als Teil eines ablaufenden gesellschaftlichen
Umbauvorgangs zu Beginn noch gegen Geschehnisse aufbegehren würde,
die man nur wenig später gleichgültig toleriert. Wären
also bei dem geschilderten SA-Überfall die jüdischen
Kollegen nicht „bescheiden" gegangen, sondern von der SA
in Gegenwart Haffners geschlagen, verletzt oder gequält worden,
wäre dessen Toleranzschwelle vermutlich überschritten
gewesen.
Mit dem weiteren Fortgang des Umbauprozesses 1934,1936
und eben 1938 werden dann weit schwerer wiegende Verletzungen
moralischer Selbstansprüche hingenommen, als man zu Beginn
toleriert hätte - weil diese moralischen Selbstansprüche
sich eben selbst verändert haben. Dieser Mechanismus erklärt
die so irritierende Akzeptanz der Ausgrenzung der jüdischen
Deutschen aus der Mehrheitsgesellschaft. Wegsehen, Dulden,
Akzeptieren, Mittun und Aktivwerden sind keine grundlegend
voneinander verschiedenen Verhaltensweisen, sondern Stadien auf einem
Kontinuum der Veränderung von Werten.
Der sensible und
kritische Sebastian Haffner jedenfalls findet sich nur wenige Monate
später in einem „Gemeinschaftslager für Referendare"
in Jüterbog wieder und begegnet sich dabei, wie er
nationalsozialistische Lieder singt, Wehrsportübungen
absolviert, weltanschaulich geschult wird und dabei „Schmiere
steht", als ein Referendar einem „Femegericht"
unterworfen, also gemeinschaftlich verprügelt wird.
Abends in
der Kantine lauscht man einer Ansprache Hitlers im Radio. „Als
er ausgeredet hatte, kam das Schlimmste. Die Musik signalisierte:
Deutschland über alles, und alles hob die Arme. Ein paar
mochten, gleich mir, zögern. Es hatte so etwas scheußlich
Entwürdigendes. Aber wollten wir unser Examen machen oder nicht?
Ich hatte, zum ersten Mal, ein Gefühl so stark wie ein Geschmack
im Munde - das Gefühl: ,Es zählt ja nicht. Ich bin es ja
gar nicht, es gilt nicht.' Und mit diesem Gefühl hob auch ich
den Arm und hielt ihn ausgestreckt in die Luft, ungefähr drei
Minuten lang. So lange dauern das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied.
Die meisten sangen mit, zackig und dröhnend. Ich bewegte ein
wenig die Lippen und markierte Gesang, wie man es in der Kirche beim
Choralsingen tut. Aber die Arme hatten alle in der Luft, und so
standen wir vor dem augenlosen Radioapparat, der nun die Arme hochzog
wie ein Puppenspieler die Arme seiner Marionetten, und sangen oder
taten so, als ob wir sangen; jeder die Gestapo des anderen."13
Haffner zeigt hier eindrucksvoll nicht nur den sukzessiven Umbauprozess des von ihm für akzeptabel gehaltenen Verhaltens, sondern auch dessen Feinabstimmung in der gemeinsamen sozialen Praxis. Der Umbau der Verhaltensnorm kommt weder von außen noch ist er ein individueller Vorgang, sondern einer, der sich in jener wechselseitigen Bestätigung bildet, die soziales Handeln selber ist. So, und zwar bei allem „inneren" Widerstand und bei aller Kritik, wird auch Sebastian Haffner zu einem Kameraden unter anderen, und sein einziges Mittel zur Wahrung seiner persönlich wahrgenommenen Integrität besteht im Rückgriff auf eine innere Distanzierung: „Ich trug eine Uniform mit Hakenkreuzbinde. Ich stand stramm und putzte mein Gewehr. Aber das alles galt ja gar nicht. Ich war nicht gefragt worden, ehe ich es tat. Es war ja gar nicht ich, der es tat. Es war ein Spiel, und ich spielte eine Rolle."14
Man
sieht, es ist die Rollendistanz, die die Teilhabe an einem
Verhaltensmodell erlaubt, das die Person sich selbst nur kurze Zeit
zuvor keineswegs gestattet hätte. Wenn man solche Veränderungen
von Verhaltensnormen als „moralische Korrumpierung" oder
„Wegfall von Hemmungen" interpretiert, um die
gegenmenschlichen Verhaltensweisen im Nationalsozialismus zu
erklären, greift man zu kurz: Denn hier wird das als „normal"
definierte zwischenmenschliche Verhalten als Ganzes verändert,
und die Orientierungen der Einzelnen verändern sich auf von
ihnen selbst unbemerkte Art und Weise in diesem Rahmen mit. Das
Erstaunlichste daran ist, wie schnell das alles gehen kann. Die
Sensibilität Haffners im Registrieren und Durchschauen jener
subtilen, vielleicht in jedem Einzelschritt harmlos scheinenden
Wahrnehmungs- und Orientierungsveränderungen, die in ihm selbst
vorgingen, als der Nationalsozialismus die gesellschaftliche
Deutungs- und Handlungshoheit übernahm, ist von wohl
einzigartiger sozialpsychologischer Qualität. Sie macht die
Lektüre seines Buches zu einer verstörenden Erfahrung -
einer Erfahrung, aus der man etwas lernen kann über den Prozess,
in dem „ganz normale" Menschen sich bereitwillig,
gleichgültig oder widerwillig für die Unmenschlichkeit
entscheiden.
Das Entstehen eines solchen Prozesses ist kein
spezifisch deutsches Phänomen. Es hat nach dem Holocaust weitere
Völkermorde gegeben, und ihr Ausgangspunkt ist immer die
kategoriale Unterscheidung von Menschengruppen gewesen: „Arier"
und „Juden" in Deutschland, „Hutu" und „Tutsi"
in Ruanda, „neue" und „alte" Menschen in
Kambodscha. Solche Unterscheidungen bleiben aber nicht abstrakt,
sondern übersetzen sich regelmäßig in eine soziale
Praxis, in der man es schnell für selbstverständlich hält,
dass für unterschiedliche Gruppen verschiedene Rechts- und
Verhaltensnormen bestehen und in denen es am Ende sogar als moralisch
gilt, andere Menschen zu demütigen, sie zu entrechten, zu
berauben, zu deportieren und schließlich zu ermorden.
Dabei
ist es zweifellos jeweils etwas anderes, ob ich die Straßenseite
wechsele, wenn mir ein jüdischer Bekannter begegnet, weil ich
fürchte, in eine peinliche Situation zu geraten, oder ob ich in
die schöne Wohnung ziehe, aus der zuvor eine jüdische
Familie getrieben wurde, oder ob ich den Tod eines Menschen durch
eine Unterschrift unter ein ärztliches Formular anordne, oder ob
ich Krematoriumsöfen entwerfe, oder ob ich als Angehöriger
eines Reservepolizeibataillons jüdische Frauen und Kinder
ermorde. All dies sind qualitativ verschiedene Stufen, die
unterschiedlich schwierig zu überschreiten sind, aber ich
fürchte, es handelt sich dabei am Ende um ein Kontinuum, an
dessen Anfang etwas scheinbar Harmloses steht und dessen Ende durch
die Vernichtung markiert ist. Es ist nur für die meisten
Menschen wichtig, die ersten Stufen überschritten zu haben, um
die letzten überschreiten zu können.
Das Perfide liegt
aber darin, dass den allermeisten beim Überschreiten der ersten
Stufe die letzte noch ganz intolerabel erschiene, während es
gute Gründe zu geben scheint, eben den ersten, scheinbar nicht
so schlimmen Schritt zu tun - und das ist vielleicht nur ein kleines
Vergehen gegen eine ohnehin fragile innere Überzeugung, gegen
ein moralisch unangenehmes Gefühl. Aber das ist der Augenblick,
in dem die Entscheidung für die Unmenschlichkeit bereits
gefallen ist.
13 Haffner, a.a.O., S. 263.
14 Ebd., S.
275.
Erinnerungskulturelle Dauerspannung
Auch
innerhalb moderner Gesellschaften können sich Potentiale der
Unmenschlichkeit entfalten und in ungeahnter Geschwindigkeit
ausbreiten. Das Deutschland des sogenannten Dritten Reiches ist bis
heute das exemplarische Beispiel dafür. Und hier ist der
eigentliche Grund für die nachhaltige Fortexistenz jenes
absurden Geschichtsbildes vom Nationalsozialismus ohne Nazis zu
suchen, wie es sich im Fall Oettinger einmal mehr manifestierte.
Der
Fall Oettinger zeigt allerdings auch, dass die Gesellschaft es nicht
mehr unwidersprochen hinnimmt, wenn historische Gewissheiten wider
besseres Wissen in Frage gestellt werden. In aller Regel regt sich
umgehend Protest, und der berechtigten Skandalisierung folgt eine
klärende Debatte. Die Ereignisse der letzten Wochen belegen
somit, wie bereits der Fall Filbinger vor 30 Jahren, dass das
Geschichtsbewusstsein dieser Gesellschaft so weit fortgeschritten
ist, dass man mit einer solchen Position zumindest nicht mehr
unwidersprochen durchkommt.
So bleibt als Resümee, dass
erinnerungskulturelle Grundspannungen dauerhaft fortbestehen können,
wenn das zugrunde liegende Geschichtsereignis so extrem war, dass es
selbst über Generationen hinweg nachhaltige Unsicherheiten
erzeugt - der Vergangenheit und sich selbst gegenüber. Deshalb
wird sich die Diskrepanz zwischen der faktischen und der gefühlten
Geschichte in Deutschland auch nicht aufheben lassen. Genau aus
diesem Grund wird es aber Zeit, die Alltagsseite des
Nationalsozialismus, und das ist die psycho-soziale Herstellung von
Unmenschlichkeit als Normalität, stärker ins Licht der
Forschung und besonders auch der Pädagogik zu rücken und
sich endlich realistisch mit der Frage zu konfrontieren, wieso ganz
normale Menschen in der Lage sind, sich für ganz und gar
unmenschliche Verhaltensweisen zu entscheiden.
Harald Welzer - Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2007