Wie die politische Klasse den Souverän verachtet: Hamburger Lehrstück in Machtmissbrauch
Vor Kurzem konnten die Hamburger noch stolz sein auf ihre fortschrittliche Demokratie. Aus eigener Kraft hatten sie sich ein volksnahes Wahlrecht gegeben, das ein besseres und unabhängigeres Parlament versprach. Zugleich hatten sie die direkte Volksgesetzgebung durch Volksbegehren und Volksentscheide wesentlich verbessert. Doch die politische Klasse will – trotz aller Beschwörungen der Volkssouveränität an Sonntagen – die Macht nicht mit dem Volk teilen. Sie drehte das Rad der Geschichte zurück und zog dem neuen Wahlrecht den Zahn. Dieses Vorgehen mag – auf der Basis der von der politischen Klasse selbst gesetzten Regeln – vordergründig als legal erscheinen, und von der politischen Klasse ausgewählte Verfassungsrichter mögen das sogar abgesegnet haben. Legitim ist es jedenfalls nicht, und selbst die Legalität steht infrage.
Der politischen Klasse Hamburgs war das neue Wahlrecht, das erstmals bei der zum damaligen Zeitpunkt nächsten Parlamentswahl im Februar 2008 angewendet werden sollte, vor allem aus einem Grund ein Dorn im Auge: Es drohte den Parteien das Monopol über die Rekrutierung von Politikern zu entreißen, das sie bisher in aller Selbstherrlichkeit an sich gezogen hatten. Gerade das war der Sinn der Neuerung: die Allmacht der Parteien zu brechen und die Bürger an der Auswahl ihrer Vertreter teilhaben zu lassen, wie das Grundgesetz und die Hamburger Landesverfassung dies ja auch ausdrücklich vorsehen. Mit dem neuen Wahlrecht war ein erster wichtiger Schritt getan, der Misere der Rekrutierung von Politikern durch eine Reform der Demokratie von Grund auf abzuhelfen. Die Initiative war von der Nichtregierungs-Organisation „Mehr Demokratie“ eingebracht worden, und bei der Schlussabstimmung im Juni 2004 wurde sie von zwei Dritteln der abstimmenden Bürger unterstützt. Auch das notwendige Zustimmungsquorum für Volksgesetze von zwanzig Prozent der Abstimmungsberechtigten wurde übersprungen, allerdings nur knapp und nur dank der zeitlichen Koppelung an die Europawahl.
Doch das Machtinteresse der Parteifunktionäre, die bereits verhindert hatten, dass sich das Parlament selbst zu einer wirklichen Reform aufraffte, setzte alle Hebel in Bewegung, den Volkswillen zu konterkarieren. Besonders die CDU trat hierbei hervor. Kaum hatte sie – noch nach altem Wahlrecht – mit ihrem Spitzenkandidaten Ole von Beust die absolute Mehrheit im Parlament errungen, machte sie sich daran, die Neuerungen zurückzudrehen – und missbrauchte so ihre parlamentarische Mehrheit zum eigenen Machterhalt. Am 11. Oktober 2006 setzte sie im Hamburger Parlament eine Gesetzesänderung durch, die das Wahlgesetz des Volkes in den entscheidenden Punkten entschärft und das Rekrutierungsmonopol der Parteien wiederherstellt.. Diese Restauration erfolgte, ohne dass das neue Wahlrecht auch nur ein einziges Mal angewendet worden wäre. Es gab also keinerlei bessere Erkenntnisse, etwa aufgrund von Unzulänglichkeiten bei der praktischen Anwendung, die eine neue Lage geschaffen hätten. Vielmehr bestand das Parlament schlicht darauf, an Stelle des Volkswillens seinen eigenen Willen zu setzen.
Zynischerweise hatte die Kommission, die die Restauration vorbereitet hatte, ausgerechnet unter dem Vorsitz des früheren CDU-Landesvorsitzenden Jürgen Echternach beraten, mit dessen Namen sich eine höchst unrühmliche Vergangenheit der Hamburger CDU verbindet. Echternach hatte mit einem Kreis von Getreuen seit den Siebziger Jahren die Hamburger CDU autoritär geführt und sich bei der Kandidatenaufstellung derart über Verfassungsprinzipien der innerparteilichen Demokratie hinweggesetzt, dass das Landesverfassungsgericht im Jahre 1993 eine komplette Landtagswahl annullieren musste. In der Folge war Hamburg in eine schwere politische Krise geraten. Das radikale Absinken des Vertrauens der Bürger in die Etablierten hatte etwa im Aufkommen der Statt-Partei und der Schill-Partei seinen Ausdruck gefunden.
Zugleich versuchte die CDU nun, die Volksgesetzgebung, mit der das volksnahe Wahlrecht durchgesetzt worden war, zu entschärfen. Volksentscheide sollen künftig nicht mehr gleichzeitig mit einer regulären Wahl abgehalten werden, was das Erreichen der Beteiligungsquoren sehr erschwert. Auch dürfen die Bürger sich nur noch auf einer Behörde in die Unterstützungsliste für ein Volksbegehren eintragen. Unterschriften sollen also nicht mehr auf dem Markt oder an der Haustür gesammelt werden dürfen, was das Überschreiten der Quoren erheblich problematischer werden lässt. Der obligatorischen Entkopplung der Abstimmungen von Wahlen schob das Verfassungsgericht allerdings einen Riegel vor.
Ein weiteres Volksgesetzgebungsverfahren in Hamburg, welches dem Kassieren von Volksentscheiden durch das Parlament einen Riegel vorschieben und auch das Zustimmungsquorum für Verfassungsänderungen auf 35 Prozent herabsetzen sollte, erreichte am 14. Oktober 2007 mit 75,9 Prozent zwar die für die Verfassungsänderungen erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit bei Weitem, scheiterte aber an dem zusätzlich verlangten fünfzigprozentigen Zustimmungsquorum. Dabei hatten mit 39,1 Prozent der Wahlberechtigten mehr Hamburger an der Abstimmung teilgenommen als an der vorangegangenen Europawahl (34,9 Prozent). Das Erfordernis, dass mindestens fünfzig Prozent der Wahlberechtigten einer Verfassungsänderung zustimmen müssen, ist praktisch unerreichbar, es sei denn, der Termin der Abstimmung fällt mit einer Parlamentswahl zusammen, was die Machthaber jedoch im vorliegenden Fall zu verhindern wussten. Aus grandiosen Siegern bei der Volksabstimmung wurden durch Tricksereien Verlierer gemacht. Die Absurdität der Situation zeigt auch folgende Beobachtung: Den Abwehrkampf gegen die Senkung des prohibitiven Zustimmungsquorums von fünfzog auf 35 Prozent hatte die Beust-Regierung mit der Parole geführt, dann würde in Hamburg künftig nicht mehr die Mehrheit entscheiden. Dabei konnte die Regierung sich selbst auf gerade mal 32 Prozent der Wahlberechtigten stützen.
Mit der Änderung des Wahlgesetzes missachtete das Parlament die Entscheidung des Volkes. Auf den ersten Blick mag dies vielleicht zulässig erscheinen, weil bisher Regelungen fehlen, die die größere Bestandkraft von direktdemokratischen Entscheidungen ausdrücklich festlegen. Tatsächlich aber besitzt die Volksvertretung ledigl9ich vom Volk abgeleitete und deshalb mindere demokratische Legitimation. Wenn sie sich ungerührt über den Inhaber der demokratischen Souveränität hinwegsetzt, ist das sinnwidrig. Zu Volksgesetzen kommt es schließlich immer nur dann, wenn das Parlament die gewünschte Regelung nicht selbst erlässt. So ist dem Parlament ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, nach erfolgreichem Volksbegehren den Gesetzesvorschlag als eigenes, inhaltsgleiches Parlamentsgesetz zu übernehmen und auf diese Weise das Verfahren zu erledigen. Unterlässt das Parlament dies, hat das Volk mit dem Volksentscheid das letzte Wort. Damit ist es unvereinbar, wenn das Parlament sich nach erfolgtem direktdemokratischem Mehrheitsvotum über dieses hinwegsetzen kann – ohne Einhaltung irgendwelcher Karenzzeiten und ohne dass eine neue Lage eingetreten wäre. In einem Land, das sich zur Volkssouveränität bekennt, müssen unmittelbar vom Volk erlassene Gesetze selbstverständlich einen höheren Rang besitzen als Gesetze, welche dem Volk nur mittelbar zugerechnet werden können, weil seine Vertretung sie erlassen hat. Das ergibt die Verfassungsauslegung unabhängig von ausdrücklichen Regelungen. Deshalb sind Volksentscheide in der Schweiz für das Parlament absolut tabu. Doch in Deutschland verachtet die politische Klasse das Volk und schreckt nicht davor zurück, demokratische Prinzipien umzudrehen, um ihre Macht zu sichern und sich gegen Einwirkungen des Volkes zu immunisieren. Die Anmaßung der politischen Klasse, mehrheitliche Volksentscheide zu kassieren, widerspricht demokratischen Grunderfordernissen so sehr, dass sie einer Art Staatsstreich von oben gleichkommt.
Dass dieser Skandal dennoch keinen bundesweiten Sturm der Entrüstung ausgelöst hat, ist bezeichnend für die demokratische Kultur unserer Republik. Die politische Klasse hat es durch ihre Eigenpropaganda, die Begriffe verdreht, die Grundsätze verzerrt und auch die Staatsrechtslehre und die Verfassungsgerichte bis zu einem gewissen Grad einbindet, fertiggebracht, dass in Sachen Demokratie den Menschen der klare Blick abhandenzukommen droht.
Hans Herbert von Arnim