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USA – Israel – Palästina

Noam Chomsky


Im Jahr 2001 stellte der Soziologe Baruch Kimmerling von der Hebräischen Universität in Jerusalem fest: „Was wir befürchtet haben, ist eingetreten“. Juden und Palästinenser befänden sich „in einem Prozess des Rückfalls in ein abergläubiges Stammesbewusstsein… Krieg erscheint als unabwendbares Schicksal“ – ein „grausamer kolonialer“ Krieg.

Nach dem israelischen Einfall in palästinensische Flüchtlingslager im Frühjahr 2202 schrieb Kimmerlings Kollege Ze´ev Sternhell, „im kolonialen Israel… ist ein Menschenleben billig“. Die Führung „schämt sich nicht, von Krieg zu sprechen, während sie in Wahrheit eine Kolonialpolitik betreibt, die an die Apartheit in Südafrika erinnert, als die weiße Polizei in den Armenvierteln der Schwarzen das Regime übernahm“.

Was die beiden Autoren schreiben, ist nicht neu: Die „ethnationalen,(auf die Stufe des Stammesbewusstseins zurückgefallenen) Gruppen“ stehen nicht auf gleichem Fuß. Den Kern des Konflikts bilden Gebiete, die sich seit 35 Jahren unter brutaler Militärbesatzung befinden. Der Eroberer ist eine der größten Militärmächte, die mit massiver militärischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Unterstützung der Supermacht dieser Welt agiert. Die Unterworfenen stehen ihr allein und schutzlos gegenüber, viele kämpfen in elenden Lagern um ihr Überleben und leiden gegenwärtig unter einem noch menschenverachtenderen Terror, als wir ihn aus „grausamen kolonialen“ Kriegen, sodass sie jetzt Rache nehmen und ihrerseits schreckliche Gräueltaten begehen.

Der „Friedensprozess“ von Oslo veränderte die Modalitäten der Besatzung, nicht jedoch das grundlegende Prinzip. Unmittelbar vor seinem Eintritt in die Regierung Ehud Baraks schrieb der Historiker Shlomo Ben-Ami, dass „die Vereinbarungen von Oslo auf einer neokolonialistischen Grundlage getroffen wurden, das heißt, sie zementierten einen Zustand, in dem die eine Seite ein Leben in Abhängigkeit von der anderen führt“. Kurz darauf im Sommer 2000, wurde Ben-Ami einer der Architekten der amerikanisch-israelischen Friedensvorschläge von Camp David, die an dieser einseitigen Abhängigkeit festhielten und dennoch von den amerikanischen Kommentatoren in den höchsten Tönen gepriesen wurden. Den Palästinensern hingegen und ihrem bösen Anführer schrieb man die Verantwortung für das Scheitern der Gespräche und die darauf folgende Gewalt zu. Das aber ist eine völlige „Irreführung“, wie Kimmerling und übrigens alle seriösen Kommentatoren betonen.

Tatsächlich bedeuten die Vorschläge von Clinton und Barak einen Fortschritt – bis hin zu einer Regelung im Stil des südafrikanischen Bantustan. Vor Camp David waren die Palästinenser auf über 200 verstreute Gebiete verteilt, eine untragbare Situation, für die Clinton und Barak nun ihre Verbesserungsvorschläge vorlegten: die Zusammenlegung in drei Kantone unter israelischer Kontrolle, praktisch isoliert voneinander und von der vierten Enklave, einem kleinen Teil Ostjerusalems, des palästinensischen Lebens- und Kommunikationszentrums in der Region. Was mit der fünften Enklave, dem Gazastreifen, geschehen soll, blieb offen, sieht man einmal davon ab, dass auch hier die Bevölkerung praktisch in einem riesigen Gefängnis saß und sich daran nichts ändern sollte. So ist es durchaus verständlich, dass man in der meinungsbeherrschenden Presse der USA vergeblich nach einer Gebietskarte suchte und auch keine Einzelheiten über Vorschläge von Camp David erfuhr.

Niemand kann ernsthaft bezweifeln, dass die USA weiterhin eine maßgebliche Rolle im Nahostkonflikt spielen werden. Daher ist es so wichtig, zu wissen, worin diese Rolle bisher bestand und wie sie in den USA selbst wahrgenommen wird. Die Interpretation der Tauben kommt in einem Kommentar der New York Times zum Ausdruck, die „die bahnbrechende Rede“ des Präsidenten und die „darin aufscheinende Vision“ lobte. Deren wichtigstes Element ist „die sofortige Beendigung des palästinensischen Terrors“. Danach erst folgen das „Einfrieren des Siedlungsbaus, dann die Räumung von Siedlungen und schließlich Verhandlungen über neue Grenzen“, um die Besatzung zu beenden und die Gründung eines palästinensischen Staats zu ermöglichen. Das Ende des palästinensischen Terrors werde Israel ermutigen, „das historische Angebot der Arabischen Liga für einen vollständigen Frieden und die Anerkennung (Israels) im Gegenzug zum israelischen Rückzug ernster nehmen“. Zunächst aber müssten die Palästinenser fühtrer beweisen, dass sie „echte Verhandlungspartner“ seien.

Die wirkliche Welt hat wenig Ähnlichkeit mit dieser lediglich den eigenen Interessen dienenden Darstellung – die praktisch die der 1980er Jahre wieder aufnimmt, als die Vereinigten Staaten und Israel verzweifelt nach einer Möglichkeit suchten, das Angebot der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die zu Verhandlungen und einer politischen Lösung bereit war, zurückweisen zu können. Stattdessen blieben sie bei dem Grundsatz, es werde keine Verhandlungen mit der PLO geben, keinen „zweiten palästinensischen Staat“ (Jordanien wurde bereits als solcher aufgefasst) und keine „Veränderungen des Status von Judäa, Samaria und des Gazastreifens, die nicht mit den Leitlinien der (israelischen) Regierung vereinbar sind“. Wie üblich tauchte all dies in den meinungsbeherrschenden Medien der USA nicht auf. Sie beschränkten sich darauf, die Palästinenser wegen ihres hartnäckigen Festhaltens am Terror anzuprangern, das die humanitären Anstrengungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten unterminiere.

In der realen Welt ist das größte Hindernis für die Verwirklichung der „aufscheinenden Vision“ nach wie vor die Verweigerungshaltung der USA. Das „historische Angebot“ vom März 2002 enthält kaum Neues, sondern greift lediglich die zentralen Begriffe einer Resolution des Weltsicherheitsrats vom Januar 1976 auf, die praktisch von aller Welt einschließlich der führenden arabischen Staaten, der PLO, Europas und des sowjetischen Blocks angenommen wurde – also von allen, die zählten. Nur Israel stimmte dagegen, und die Vereinigten Staaten legten ihr Veto ein, womit die Resolution sozusagen aus der Geschichte gestimmt wurde. Die Resolution sah eine politische Einigung auf der Grundlage der international anerkannten Grenzen vor, und zwar „mit Vereinbarungen…, die geeignet sind, die Souveränität, die territoriale Einheit und die politische Unabhängigkeit aller Staaten in dem Gebiet und deren Recht auf ein Leben in Frieden innerhalb sicherer und anerkannten Grenzen zu garantieren“. Dies war praktisch eine Modifizierung der UN-Resolution 242 (was offiziell auch von den Vereinigten Staaten so aufgefasst wurde), ergänzt durch einen geplanten palästinensischen Staat. Seither werden ähnliche Initiativen vonseiten arabischer Staaten, der PLO und Europas von den USA mit schöner Regelmäßigkeit abgelehnt und in öffentlichen Kommentaren verschwiegen oder dementiert.

Nach alledem überrascht nicht, dass das Leitprinzip der Okkupation stets die unablässige Demütigung der Palästinenser war, begleitet von Folter, Terror, Zerstörung von Eigentum, Vertreibung und Siedlungsbau sowie Aneignung lebenswichtiger Ressourcen, vor allem von Wasserreserven. Dafür war natürlich die maßgebliche Hilfe der USA erforderlich, die in den Clinton-Barak-Jahren noch ausgeweitet wurde. „Die Regierung Barak hinterlässt der Regierung Sharon ein überraschendes Erbe“, hieß es beim Machtwechsel in der israelischen Presse. „Seit 1992, vor dem Oslo-Abkommen, als Ariel Sharon Bau- und Siedlungsminister war, wurden in den besetzten Gebieten nicht mehr so viele Wohnungen gebaut wie jetzt.“ Finanziert werden diese Siedlungen vom amerikanischen Steuerzahler, den man dafür mit Märchen von den „Visionen“ und dem „Großmut“ amerikanischer Politiker getäuscht und geblendet. Leider werden deren Pläne immer wieder von Terroristen wie Arafat zunichte gemacht, die deshalb „unser Vertrauen“ verspielt haben; sicher, hier und da mag es auch ein paar israelische Extremisten geben, die angesichts der Verbrechen der Palästinenser überreagieren.

Wie Arafat sich zu verhalten hat, um unser Vertrauen zurückzugewinnen, erklärt Edward Walker, der Mitarbeiter des Außenministeriums, der unter Clinton für die Region zuständig war, kurz und bündig: Der verschlagene Arafat muss klar und deutlich sagen, dass „wir unsere Zukunft und unser Schicksal in die Hände der Vereinigten Staaten legen“. Dies ist das Credo des Feldzugs, der seit Jahrzehnten die Rechte der Palästinenser aushöhlt.

Ernster zu nehmen sind da schon die Kommentatoren, die erkennen, dass das „historische Angebot“ im Großen und Ganzen eine Neuauflage des saudischen Fahd-Plans von 1981 war – der, wie regelmäßig behauptet wurde, durch Arafats Weigerung, die Existenz Israels anzuerkennen, durchkreuzt wurde. Auch hier sprechen die Fakten in Wirklichkeit eine ganz andere Sprache. Der Plan von 1981 wurde durch eine selbst von der eigenen Prasse als „hysterisch“ bezeichnete Reaktion Israels vereitelt: Schimon Peres warnte, der Fahd-Plan „bedrohe Israels Existenz“. Präsident Chaim Herzog wetterte, der „eigentliche Urheber“ des Fahd-Plans sei die PLO, und er sei sogar noch schlimmer als die Resolution des Weltsicherheitsrats vom Januar 1976, die die PLO „vorbereitet“ habe, als er selbst israelischer Botschafter bei den Vereinten Nationen war. Diese Behauptungen dürften wohl kaum zutreffen (auch wenn die PLO beide Pläne öffentlich unterstützte), aber sie sind ein Hinweis auf die verzweifelte Angst, die israelischen Tauben könnten eine politische Lösung herbeiführen, eine Angst, die von den Vereinigten Staaten unablässig und mit aller Kraft geschürt wird.

Heute wie damals liegt das grundlegende Problem in Washington. Die amerikanische Regierung hat Israel stets in seiner strikten Weigerung unterstützt, eine politische Einigung unter Bedingungen anzustreben, die breite internationale Zustimmung fanden und in dem „historischen Angebot der Arabischen Liga“ im Wesentlichen wieder aufgegriffen wurden.

Die neuen Töne in den Verlautbarungen der US-Regierung zu diesem Thema ändern nichts an ihrer grundsätzlichen Verweigerungshaltung. Sie sind bloß taktischer Natur und daher von geringer Bedeutung. Als Pläne für einen Angriff auf den Irak gefährdet waren, billigten die Vereinigten Staaten eine US-Resolution, die einen Rückzug Israels aus den neu besetzten Gebieten „ohne Verzögerung“ forderte – das heißt, „so bald wie möglich“, wie Außenminister Colin Powell sich beeilte zu erläutern. Der palästinensische Terror müsse „sofort“ aufhören, während man es mit dem Ende des viel grausameren Terrors, den Israel seit nunmehr 35 Jahren ausübt, noch nicht so eilig hat. Israel weitete umgehend seine Angriffe auf die Palästinenser aus, was Powell zu der Aussage veranlasste: „Ich freue mich zu hören, dass der Premierminister sagt, er treibe seine Operationen voran.“ Es spricht einiges dafür, dass Powells Besuch in Israel hinausgezögert wurde, damit die Operationen noch weiter „vorangetrieben“ werden konnten.

Die Vereinigten Staaten ließen auch eine UN-Resolution durchgehen, die zu einer „Vision“ für einen palästinensischen Staat aufrief. Diese entgegenkommende Geste, die viel Zustimmung fand, ist natürlich weit entfernt von dem Beispiel Südafrika, wo das Apartheitsregime vor 40 Jahren seine „Vision“ rein schwarzer Staaten umsetzte, die mindestens so lebensfähig und legitimiert waren wie das neokoloniale, abhängige Gebilde, das sich die Vereinigten Staaten und Israel für die besetzten Gebiete ausgedacht haben.

Inzwischen sind die Vereinigten Staaten dazu übergegangen, „den Terror zu steigern“, um mit Bushs Worten zu sprechen, indem sie Israel die Mittel für Gewalt und Zerstörung an die Hand geben, darunter auch eine neue Lieferung des mit modernster Technik ausgestatteten Hubschraubers aus dem US-Arsenal.

Washingtons Beteiligung an der Steigerung des Terrors zeigte sich erneut im Dezember 2001, als es gegen eine Resolution des Weltsicherheitsrats zur Umsetzung des Mitchell-Plans sein Veto einlegte. Der Plan sah die Entsendung internationaler Beobachter vor, die die Gewaltreduzierung überwachen sollten, ein äußerst effektives Instrument, wie allgemein anerkannt wird, das jedoch bei den Israelis auf Widerstand stößt und immer wieder von Washington blockiert wird. Die USA legten dieses Veto in einer „ruhigen“ Periode ein, in der über drei Wochen nur ein israelischer Soldat getötet wurde, während auf der anderen Seite21 Palästinenser, darunter elf Kinder starben, und die Israelis 16-mal in von den Palästinensern verwaltete Gebiete eindrangen. Zehn Tage vor dem Veto boykottierten die Vereinigten Staaten eine internationale Konferenz in Genf – und unterminierten sie damit -, die erneut feststellte, dass die Vierte Genfer Konvention auf die besetzten Gebiete anzuwenden ist, sodass praktisch alles, was die Vereinigten Staaten und Israel dort tun, einen „schwerer Verstoß“ – oder einfacher gesagt, ein „Kriegsverbrechen“ darstellt. Die Konferenz erklärte insbesondere die von den USA finanzierten israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten für illegal und verurteilte das „willkürliche Töten und Foltern, die gesetzwidrige Vertreibung, die willkürliche Verweigerung des Rechts auf ein faires und ordentliches Gerichtsverfahren, die umfangreiche, ungesetzliche und vorsätzliche Zerstörung und Aneignung von Eigentum“. Als Hohe Vertragspartei sind die Vereinigten Staaten aufgrund formeller Abkommen verpflichtet, die für diese Verbrechen Verantwortlichen, wozu auch ihre eigene Führung gehört, gerichtlich zu verfolgen. Und so reden wir lieber nicht darüber.

Die Vereinigten Staaten haben offiziell weder ihre Anerkennung der Anwendbarkeit der Genfer Konventionen auf die besetzten Gebiete widerrufen noch ihre Missbilligung der Verstöße der „Besatzungsmacht“ Israel gegen die Konventionen (die zuletzt von George Bush I. in seiner zeit als Botschafter bei den Vereinten Nationen bestätigt wurde). Im Oktober 2000 bekräftigte der Weltsicherheitsrat erneut die einhellige Haltung der Mitgliedstaaten in dieser Frage und „rief die Besatzungsmacht Israel dazu auf, sich gewissenhaft an ihre gesetzlichen Verpflichtungen und ihre Verantwortung aufgrund der Vierten Genfer Konvention zu halten“. Die Resolution wurde mit 14 : 0 Stimmen angenommen. Clinton enthielt sich, vermutlich, weil er nicht sein Veto gegen eins der Kernprinzipien des humanitären Völkerrechts einlegen wollte, insbesondere im Licht der Umstände, unter denen es eingeführt wurde: nämlich um Gräueltaten der Nazis formell zu Verbrechen zu erklären. Doch all das wurde rasch dem vergessen anheimgegeben – ein weiterer Beitrag zur „Steigerung des Terrors“.

Solange diese Dinge nicht offen diskutiert werden dürfen und man ihre Folgen nicht erkennt, ist es zwecklos, zu fordern, „die USA sollten sich im Friedensprozess engagieren“, und so lange sind auch die Aussichten auf konstruktive Maßnahmen düster.


Aus: Zentrale Schriften zur Politik, veröffentlicht in: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, Noam Chomsky

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